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Aus: Ausgabe vom 25.03.2023, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

»Platz an der Sonne« – in China

Im Bund mit sieben weiteren imperialistischen Mächten schickte das Deutsche Reich 1900 eine »Strafexpedition« nach Ostasien. August Bebel nahm dazu im Reichstag Stellung
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Brutales Machtbewusstsein der Mächte und souveräne Verachtung, die sie gegen China und die Chinesen haben: Soldaten aus den USA, aus Indien, Frankreich, Italien, Britannien, Deutschland, Österreich-Ungarn und Japan in China

Von 1897 bis 1914 besetzte die deutsche Kriegsmarine die Bucht von ­Jiaozhou (Kiautschou). Formal war die Kolonie seit 1898 ein Pachtgebiet. Während des sogenannten Boxeraufstandes um 1900 nutzte Deutschland im Bunde der imperialistischen »Vereinigten acht Staaten« (Japan, Russland, Großbritannien, Italien, USA, Frankreich, Österreich-Ungarn) die Gelegenheit zum Versuch, China aufzuteilen. Das Deutsche Kaiserreich entsandte ein 15.000 Mann starkes Truppenkontingent. Am 27. Juli 1900 verabschiedete es Kaiser Wilhelm II. mit einer Ansprache in Bremerhaven, die als »Hunnenrede« in die Geschichte einging. Am 19. November 1900 sprach der SPD-Vorsitzende August Bebel dazu im Reichstag:

Der erste Grundsatz eines jeden ehrlich und rechtlich Denkenden, der auch der Grundsatz jedes Staatsmanns sein sollte, ist: Tue du nicht einem andern, was du nicht willst, dass man dir selber tue! Was haben wir statt dessen aus dem Munde des Herrn Reichskanzlers (Fürst Bernhard von Bülow, jW), als er noch Staatssekretär war, bezüglich dieser Angelegenheit gehört? Da kam das schöne poetische Beispiel von dem »Platz an der Sonne« (von Bülow am 6. Dezember 1897 im Reichstag, jW), den Deutschland brauchte, und »der Platz an der Sonne« war natürlich nirgendwo anders als in Ostasien, in Kiautschou. (…)

Alles das, was ich seither über die Stellung der Mächte zu China dargelegt habe, und noch vieles andere, wem entspringt das? Ganz einfach dem brutalen Machtbewusstsein der Mächte und der souveränen Verachtung, die sie gegen China und die Chinesen haben! (…) Der Chinese erscheint ihnen als eine lächerliche Figur, als ein unscheinbares Wesen, das sich alles gefallen lassen muss, was die Europäer ihnen tun. (…)

Was folgte nun weiter? Abermals eine Verstärkung der Schutztruppen. Am 3. Juni sind (…) 50 Mann Verstärkung der deutschen Schutztruppe in Peking eingetroffen. Die gleiche Zahl stellten die anderen Mächte. Mitte Juni waren 450 Mann fremder Schutztruppen vereinigt. Man hat die chinesische Regierung nicht gefragt, ob sie die Genehmigung zur Einführung dieser Schutztruppen gäbe, sondern so getan, als existiere die chinesische Regierung nicht mehr, als sei China landesherrenloses Gut. Das war abermals eine flagrante Verletzung der einfachsten völkerrechtlichen Bestimmungen und Pflichten seitens der fremden Mächte! (…) Nun ist es aber für die jetzt folgenden Ereignisse in Peking außerordentlich wichtig, uns einmal zu vergegenwärtigen, was die Schutztruppe, bevor es zur revolutionären Erhebung in Peking kam, getan hat. (…)

Die Kölnische Zeitung berichtet in Nummer 870 aus dem Tagebuch des Herrn (Heinrich) Cordes (Dolmetscher an der deutschen Gesandtschaft in Beijing, jW), das dieser ihr überlassen hat, dass am 14. Juni deutsche Posten, auf der Stadtmauer in Peking stehend, beobachteten, wie in einer Entfernung von 300 bis 400 Metern auf einem freien Platze eine Anzahl von Menschen, mit dem roten Turban versehen, in friedlicher Weise auf dem Boden saßen, und in der Mitte dieser Menschen ein Mann stand, der, in lebhafter Weise gestikulierend, ihnen eine Rede hielt; es waren offenbar Sektierer, zu denen eine Art Vorbeter sprach. Zitat: »Da knallte ein Dutzend fremder Gewehre in die Höhe, sieben bis acht Auserwählte brachen unter dem geweihten roten Turban tot zusammen, andere schleppten sich verwundet von dannen, und die Versammlung flog auseinander.«

Deutsche Soldaten haben also von der Mauer der Gesandtschaft, ohne die geringste Provokation gegen einen Haufen friedlich versammelter Chinesen geschossen, haben sechs bis acht Mann getötet, eine ganze Anzahl verwundet, während die anderen geflohen sind. Sie haben damit das schwerste völkerrechtswidrige Verbrechen begangen, das man überhaupt zu tun imstande war, sie begingen elenden, feigen Mord. (…)

Unter allen Umständen war der Mord an dem Gesandten (am 20. Juni 1900, jW) ein Verbrechen – ich spreche das Wort ungeniert aus –, wo mildernde Umstände vorlagen. Darüber ist man aber bei uns in Deutschland ganz außer sich geraten. Da stieg alles in die höchste Entrüstung. Man konnte nicht eilig genug nach Peking kommen, um die fürchterlichste Rache zu nehmen. Und derjenige, der das Signal für diesen Rachefeldzug mit den entsprechenden Worten gab, das ist ja bekanntlich der Kaiser gewesen, der beim Abgang der Seebataillone, die von Wilhelmshaven nach Ostasien gingen, jene bekannte Rede hielt, in der es heißt: »Mitten in den tiefsten Frieden hinein, für mich leider nicht unerwartet, ist die Brandfackel des Kriegs geschleudert worden.« Heute will man von dem »Krieg« nichts wissen, und hier spricht der Kaiser ausdrücklich von Krieg. »Ein Verbrechen, unerhört in seiner Frechheit, schaudererregend durch seine Grausamkeit, hat meinen bewährten Vertreter getroffen und dahingerafft.«

Deutscher Reichstag, Sitzungsprotokolle, 3. Sitzung, Montag, den 19. November 1900, ­Seiten 27–30. Hier zitiert nach: reichstagsprotokolle.de

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