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Aus: Ausgabe vom 25.03.2023, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

In uns bleibt es

Vom langen Arm des Patriarchats: Antonia Baums etwas braver Roman »Siegfried«
Von Stefan Gärtner
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»Es gab viele Probleme, überall waren sie versteckt«: Schrecken der Kleinfamilie

Vorurteile sind, man weiß es, schlecht, aber natürlich sind wir voll davon, und nicht ohne Grund. In Jason Reitmans Film »Up in the Air« (2009) gibt George Clooney als Vielflieger seiner jungen Begleiterin den Rat, sich bei der Sicherheitskontrolle immer hinter Asiaten anzustellen, die seien diszipliniert und machten keinen Ärger. Darauf die Begleitung: »But that’s racist!« Und trotzdem sind sie beide dann schneller im Flugzeug.

Im neuen Roman der Journalistin Antonia Baum hat sich eine junge Frau in die psychiatrische Notaufnahme geflüchtet, weil sie glaubt, die Kontrolle zu verlieren über ihr modernes Berliner Kleinfamilienleben, das mit dem hergebracht elterlichen leider doch mehr zu tun hat als erhofft. Da sagt das Vorurteil: Überforderte junge Akademikerinnen in Mitte oder Kreuzberg, und mit der Emanzipation ist es auch nicht so weit her, wie alle denken – will ich das lesen? Man muss es lesen, schon aus beruflichen Gründen, und dann liest man’s zunächst nicht ungern, nämlich trockenschöner Sätze wegen wie: »Meine Mutter sah aus wie die Frauen aus den Zeitschriften, die sie las, und war deswegen viel im Bade­zimmer«, weil die trübe Ehe, in der der Mann gut verdient und viel unterwegs ist und die Frau zu Hause Zeitschriften liest, vor gerade mal einer Generation noch längst kein Skandal war. »Sie werden wahnsinnig in diesen Häusern«, heißt eine ältere Zeile Bernd Begemanns dazu, und da wir zu guten Teilen ein Produkt unserer Erziehung sind, holt uns das alles wieder ein, und sei’s als der Anspruch, neben Beruf, Partnerschaft und Kind noch alles blitzsauber und in Ordnung zu haben, wofür der Roman die »Persil«-Flasche als Symbol bereithält.

Und da wären wir bei seinem Problem: »Es gab viele Probleme, überall waren sie versteckt«, während der Roman eben das eine Problem verhandelt und es kein bisschen versteckt. Das fängt beim vorderhand guten Titel an, der sofort alles sagt, was zu sagen ist, und den patriarchalen Siegfrieden des aus dem alten BRD-Holz der Nazi­kinder geschnitzten Stiefvaters der Erzählerin meint. Seine Mutter heißt Hilde, achtet auf Haltung und Disziplin und verachtet ihre Schwiegertochter dafür, dass sie Brüste hat, zu Hause hockt und Zeitschriften liest; und so gut das im Detail beschrieben ist, wie die Großmutter der Enkelin alles Weibliche, nämlich Weibische auszutreiben versucht, ist das noch dann sehr lehrbuchhaft, wenn es autobiographisch sein sollte; und irgendwann steht tatsächlich »Hitler« da, und »Faschismus« auch, und natürlich wohnen die seit je in der Kleinfamilie, und deshalb wird der so sensible wie verkrachte Künstler, mit dem die Erzählerin ein Kind hat – Johanna, genannt »­Johnny«, sic –, dann aus Versehen gewalttätig. Er schafft es nämlich sowenig, wie es seine kleinbürgerlichen DDR-Eltern je geschafft haben, und wieder mal gilt Falladas Wort, dass es in uns sitzt und in uns bleibt.

Auch bei Doderer steht das mal, dass Kindheit wie ein Eimer sei, den man über den Kopf gekippt bekomme und dessen Inhalt dann ein Leben lang an uns hinablaufe, und als darüber hinausgehende Neuigkeit lässt sich aus Baums Buch erfahren, dass das Patriarchat keineswegs überwunden ist und das ach so freie Leben des Kindsvaters darauf hinausläuft, dass die Kindsmutter mit dem Mental Load allein bleibt. Aber ein Roman muss das Rad ja nicht neu erfinden, wenn er bloß zu rollen versteht, und Baums Roman rollt, allerdings zu glatt, weil seine sauber gefügte Prosa aus Impression, Reminiszenz und Analyse eine sein muss, die aus der Notaufnahme kommt, anstatt eine zu sein, die die Selbsteinweisung verhindert.

Als nämlich komische Prosa, und momentweise blitzt auf, was »Siegfried«, dieser nicht ganz schlechte, aber doch sehr brave Roman, hätte sein können: »Dort«, am gläsernen Treppengeländer, »stand ich und beobachtete meine Mutter, ohne das Glas zu berühren (Flecken), da wir ja alle schon genug Ärger hatten.« Ein Strunk-Satz, der die Hölle, der er sich verdankt, im Hegelschen Sinn aufhebt, indem er ihr Banales lapidar parodiert. Baums eher überraschungsarme Problemerzählung dagegen neigt dazu, es bloß zu reproduzieren, was die Immanenz, um die es geht, zwar naturgetreu abbildet, aber à la longue dann leise langweilt. Und dass auch im Lektorat des Claassen-Verlags noch nicht angekommen ist, dass man »sich« weder erschrecken noch »erschrocken haben« kann, mag das Vorurteil bestätigen, dass, wenn Titel und Thema stimmen, der Rest schon sein Publikum findet. Und sofern es glaubt, die alten weißen Männer seien passé, ginge das hier auch in Ordnung.

Antonia Baum: Siegfried. ­Claassen-Verlag, Berlin 2023, 256 Seiten, 24 Euro

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