»Es ist mehr als nur eine schwere soziale Krise«
Interview: Martin Dolzer
In Frankreich laufen Millionen Menschen Sturm gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters, die Präsident Macron per Dekret durchgeboxt hat. Haben die Proteste mittlerweile historisches Ausmaß erreicht?
So etwas hat es noch nie gegeben. Angriffe auf das Rentenrecht als einen Grundpfeiler des Sozialsystems in Frankreich hatten schon immer zu riesigen Demonstrationen geführt. Doch dieses Mal ist es außergewöhnlich. Die Wut ist sehr groß. Millionen von Franzosen demonstrieren, die Streiks weiten sich aus.
Die Gesamtheit der Gewerkschaften steht an der Spitze der Bewegung. In Umfragen fordern 90 Prozent der Beschäftigten die Rücknahme des Gesetzes, das dem Parlament durch ein Verfahren gemäß Artikel 49 Absatz 3 aufgezwungen wurde. Dessen Abschaffung fordern wir seit langem. Wir stehen nicht nur vor einer schweren sozialen Krise. Es ist mittlerweile auch eine politische und demokratische Krise.
Richtet sich der Widerstand nun also auch gegen Macrons unsoziale Politik im allgemeinen?
Der Protest gegen die Anhebung auf 64 Jahre ist ein Kristallisationspunkt, durch den eine tiefere soziale Unzufriedenheit zum Ausdruck kommt. Seit September finden zahlreiche Streiks für Lohnerhöhungen und zum Erhalt der Kaufkraft statt. Der Personalmangel verschärft sich in allen öffentlichen Diensten, angefangen bei Krankenhäusern und Schulen. Insgesamt haben sich die Arbeitsbedingungen verschlechtert. Seit der Pandemie stellen die Menschen den Sinn und die Bedingungen ihrer Arbeit in Frage. Länger zu arbeiten, wenn es so viel Unsicherheit und Arbeitslosigkeit gibt und vor allem so viele »Superprofite«, die von den großen Konzernen angehäuft werden, das akzeptiert niemand mehr.
Wie lautet die Antwort der Regierung auf die Proteste?
Die Regierung hat alle ihr zur Verfügung stehenden ordnungspolitischen Verfahren genutzt, um dem Parlament ihren Text aufzuzwingen. In Frankreich erlaubt die Verfassung die Verabschiedung eines Textes ohne Abstimmung im Parlament mit Hilfe des Artikels 49.3. In einer solchen Situation, in der die Mehrheit der Menschen im Land den Text ablehnt, wird dies als unannehmbare Provokation empfunden. Das hat den Zorn in der Bevölkerung vervielfacht. Die Regierung versucht nun auch, die Demonstranten zu diffamieren und zu unterdrücken. Doch bislang kann nichts die Opposition, die nach wie vor eine übergroße Mehrheit stellt, untergraben.
Ein Misstrauensantrag gegen Premierministerin Elisabeth Borne, der im Rahmen des Artikel 49.3 gestellt werden kann, ist knapp gescheitert.
An nur neun Stimmen. Ein Teil der Rechten war in letzter Minute der Regierung beigesprungen. Doch die politische Krise ist jetzt offenkundig. Emmanuel Macron war nur wiedergewählt worden, weil die Mehrheit der Franzosen die Wahl von Marine Le Pen verhindern wollte. Bei den Parlamentswahlen hatte er jedoch keine Mehrheit in der Nationalversammlung erreicht. Er dachte, er könne sich auf die Rechte stützen, um Mehrheiten zu finden. Aber selbst das hängt nur noch an einem seidenen Faden, so stark ist die Ablehnung in der Bevölkerung. Die Lage ist nun dauerhaft instabil. Marine Le Pen versucht, aus dem Hinterhalt zu agieren.
Die Linke hat eine große Verantwortung, eine Regierungsalternative anzubieten und eine legislative Mehrheit zu erobern, falls es zu einer Auflösung des Parlaments kommen sollte. Wir Kommunisten arbeiten aktiv daran. So starten wir gerade eine Kampagne, um die Rentenreform einem Referendum zu unterwerfen.
In der Bundesrepublik wird das wirkliche Ausmaß der Proteste kaum thematisiert. Welche Unterschiede sehen Sie zwischen der Situation in Frankreich und hierzulande?
Die Geschichte der Kämpfe in Europa lehrt uns, dass die Gleichzeitigkeit von Mobilisierungen nicht einfach ist. In Frankreich spielt Macrons Legitimitätskrise eine besondere Rolle. Die Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage wird jedoch in den kommenden Monaten Probleme aufwerfen, die den Beschäftigten in ganz Europa gemeinsam sind. Die Aussicht auf die Europawahlen im Jahr 2024 sollte die linken, gewerkschaftlichen und sozialen Kräfte in Europa dazu veranlassen, schon jetzt zusammen an gemeinsamen Kampfzielen zu arbeiten.
Pierre Laurent sitzt für die Französische Kommunistische Partei (PCF) im Senat und war von 2010 bis 2018 deren Vorsitzender
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (25. März 2023 um 14:20 Uhr)Frankreich, wie fast alle westlichen Staaten, steckt in eine schweren politischen Krise. Der Verfassungskniff, Artikel 49.3, mit dem Emmanuel Macron seine Pensionsreform gegen den Willen des Parlaments und vor allem seine Bürger durchdrücken will, brachte die schwelende Wut über den Eigensinn des Präsidenten vor einer Woche offen zum Ausbruch. Das Schauspiel, das die französische politische Klasse bietet, ist besonders besorgniserregend. Die Verantwortung der Regierung ist immens, aber das gesamte politische System Frankreichs wurde diskreditiert. Die Kluft zwischen den Franzosen und ihren politischen Institutionen wird dadurch immer größer. Heute rächt sich, dass Macron seit seiner ersten Wahl 2017 darauf verzichtet hatte, erstens eine starke Partei mit starken Köpfen aufzubauen und zweitens die Sozialpartner in seine Pläne einzubeziehen. Folglich steht der Präsident nackt da. Wie er die vier Jahre bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen überstehen und ausfüllen soll, bleibt schleierhaft.
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