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Online Extra
23.03.2023, 21:00:00 / Ausland
Ukraine-Konflikt

Die Vertuscher

Biden-Regierung versucht weiter, ihre Verantwortung für Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines zu verbergen
Von Seymour Hersh
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Braucht keine Ermittlungen, weil er die Antwort schon kennt: US-Präsident Biden mit Adlatus Scholz in Washington (3.3.2023)

Mit freundlicher Genehmigung des Autors veröffentlicht junge Welt an dieser Stelle in deutscher Übersetzung einen neuen Beitrag des bekannten Investigativjournalisten Seymour Hersh zur Sprengung der Nord-Stream-Pipelines, der zuerst am 22. März auf der US-amerikanischen Onlineplattform Substack erschienen ist.

Vor sechs Wochen habe ich einen Bericht veröffentlicht, der unter Berufung auf anonyme Quellen Präsident Joseph Biden als denjenigen benannte, der die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines im vergangenen September befohlen hat. Der Doppelstrang Nord Stream 2 war für umgerechnet elf Milliarden US-Dollar soeben erst verlegt worden und dazu bestimmt, den Umfang der Erdgaslieferungen von Russland nach Deutschland zu verdoppeln. Mein Bericht wurde in Deutschland und anderen europäischen Ländern aufgegriffen, aber in den USA von den Medien so gut wie totgeschwiegen. Vor zwei Wochen dann versuchten US-amerikanische und deutsche Geheimdienste, im Anschluss an einen Besuch des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz in Washington, diese Mauer des Schweigens noch zu verstärken, indem sie der New York Times und der deutschen Wochenzeitung Die Zeit gefälschte Aufmacherstories unterschoben, um dem Bericht entgegenzutreten, wonach Biden und andere US-Vertreter verantwortlich waren für die Zerstörung der Pipelines.

Pressesprecher des Weißen Hauses und der CIA haben übereinstimmend bestritten, dass die USA für die Sprengung der Pipelines verantwortlich waren, und mit diesen pflichtschuldigen Dementis haben sich die im Weißen Haus akkreditierten Medienvertreter abgefunden. Es gibt keinen Beleg dafür, dass auch nur ein dort anwesender Journalist den Sprecher des Weißen Hauses gefragt hätte, ob Präsident Biden veranlasst habe, was jeder ernstzunehmende Spitzenpolitiker getan hätte: nämlich die US-amerikanischen Geheimdienste förmlich mit einer gründlichen Ermittlung zu beauftragen, um unter Nutzung sämtlicher technischer und personeller Möglichkeiten herauszufinden, wer das da in der Ostsee getan hat. Eine Quelle in Geheimdienstkreisen hat mir gesagt, der Präsident habe das nicht getan und werde es auch nicht tun. Warum nicht? Weil er die Antwort sowieso kenne.

Sarah Miller – eine Energieexpertin und Redakteurin bei Energy ­Intelligence, einem Verlag für führende Handelsfachzeitschriften – hat mir in einem Interview erklärt, warum die Enthüllungen über die Pipelines in Deutschland und Westeuropa so viele Wellen geschlagen haben: »Die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines hat zu einem weiteren Anstieg der Erdgaspreise geführt, die das Vorkrisenniveau ohnehin bereits um das mindestens Sechsfache überstiegen hatten«, sagte sie. »Nord Stream wurde Ende September gesprengt. Im Monat darauf musste Deutschland für seine Gasimporte zehnmal soviel wie vor der Krise bezahlen, ein Spitzenwert. Die Preissteigerung betraf ganz Europa, und die Regierungen gaben Schätzungen zufolge nicht weniger als 800 Milliarden Euro aus, um Haushalte und Unternehmen vor den Folgen dieses Preissprungs zu schützen. Da der Winter in Europa mild war, sind die Gaspreise inzwischen auf ungefähr ein Viertel des Spitzenwerts vom Oktober zurückgegangen, aber sie liegen immer noch um das Doppelte oder Dreifache über dem Vorkrisenniveau und mehr als dreimal höher als gegenwärtig in den USA. Im Laufe des vergangenen Jahres haben deutsche und andere europäische Produzenten ihre energieintensivsten Sparten geschlossen, etwa die Herstellung von Dünger und die Produktion von Glas. Es ist unklar, ob diese Fabriken jemals wieder aufmachen werden. Europa ist hektisch bemüht, Solar- und Windenergie ans Netz zu bringen, aber es ist unklar, ob dies schnell genug gehen wird, um große Teile der deutschen Industrie zu retten.« (Miller publiziert ebenfalls auf Substack.)

Anfang März hatte Biden Bundeskanzler Olaf Scholz in Washington zu Gast. Für die Öffentlichkeit bestimmt waren dabei nur zwei Termine – ein kurzer formeller Austausch von Freundlichkeiten vor der Hauptstadtpresse ohne die Möglichkeit, Fragen zu stellen, und ein Interview mit Scholz auf CNN, geführt von Fareed Zakaria. Der sprach die Vermutungen zu den Pipelines nicht einmal an. Der Kanzler war ohne Begleitung deutscher Medienvertreter nach Washington geflogen, ein feierliches Abendessen war ebensowenig vorgesehen wie eine Pressekonferenz, obwohl dies bei solchen Treffen auf hohem Niveau ansonsten üblich ist. Statt dessen führten Biden und Scholz, wie berichtet wird, ein 80minütiges Gespräch, die meiste Zeit unter vier Augen. Keine der beiden Regierungen hat nach dem Treffen irgendeine schriftliche Erklärung oder sonst ein Statement abgegeben, aber mir ist von einer Person mit Zugang zu den entsprechenden Informationen berichtet worden, dass über das Pipelinethema diskutiert wurde und am Ende die zuständigen Leute in der CIA aufgefordert wurden, gemeinsam mit dem deutschen Geheimdienst eine Tarnstory zu lancieren, die der US-amerikanischen und der deutschen Presse als Alternative zur Erklärung der Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines präsentiert werden konnte. Wie man in Geheimdienstkreisen sagt, sollte »dem System ein Stromschlag versetzt« werden, um die Aussage zu diskreditieren, Biden habe die Zerstörung der Pipelines befohlen.

An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass der deutsche Bundeskanzler Scholz – unabhängig davon, ob er im Voraus über die Zerstörung der Pipelines informiert war oder nicht – seit letztem Herbst eindeutig an der Vertuschung der Operation der Regierung Biden in der Ostsee beteiligt war.

Die Agency hat ihre Arbeit getan und mit Hilfe des deutschen Geheimdienstes Geschichten über eine spontan auf die Beine gestellte »inoffizielle« Operation, die zur Zerstörung der Pipelines geführt habe, ausgeheckt und Pressevertretern untergeschoben. Dieser Betrug führte zu einem Bericht in der New York Times vom 7. März, in dem ein anonymer US-amerikanischer Beamter zitiert wird, der behauptet haben soll, dass »neue Geheimdienstinformationen (…) darauf hindeuteten«, dass »eine proukrainische Gruppe« in die Zerstörung der Pipeline verwickelt gewesen sein könne; und am selben Tag zu einem Onlinebericht in der Zeit, einer in Deutschlands vielgelesenen Wochenzeitung, in dem es hieß, dass deutsche Ermittlungsbeamte eine gecharterte Luxussegeljacht aufgespürt hätten, die am 6. September den deutschen Hafen Rostock verlassen habe und an der Insel Bornholm vor der Küste Dänemarks vorbeigefahren sei. Die Insel liegt nur wenige Kilometer von dem Gebiet entfernt, in dem die Pipelines am 26. September zerstört wurden. Die Yacht soll von ukrainischen Eigentümern gemietet worden und mit einer sechsköpfigen Mannschaft besetzt gewesen sein: einem Kapitän, zwei Tauchern, zwei Tauchassistenten und einem Arzt. Fünf der Besatzungsmitglieder seien Männer gewesen, eines eine Frau. Die vorgelegten Pässe seien gefälscht gewesen.

Holger Stark, der Autor des Zeit-Berichts, sagte mir nach der Veröffentlichung dieses Berichts, dass er die kriminalpolizeilichen Ermittlungen zu der Yacht und ihrem Verbleib seit Monaten verfolgt habe und er und die Zeitung beschlossen hätten, das, was sie wussten, überstürzt zu veröffentlichen, als sie von dem Bericht der New York Times erfuhren. Er habe keinen Kontakt zum deutschen Geheimdienst gehabt.

In beiden Publikationen wurde darauf hingewiesen, dass es, wie die New York Times es ausdrückte, »viel gab, was sie nicht wussten«. Die neu gewonnenen Informationen hätten die ermittelnden Beamten aber »optimistischer« gemacht, dass man zu einer eindeutigen Schlussfolgerung über die Täter kommen werde. Aber das würde lange dauern, sagten verschiedene hochrangige Beamte in Washington und Deutschland. Die Botschaft war also, dass Presse und Öffentlichkeit aufhören sollten, Fragen zu stellen, und die Ermittler die Wahrheit herausfinden lassen sollten. Diese würde natürlich nie ans Licht kommen. Der erfahrene Stark, der die Ermittlungsabteilung der Zeit leitet, ging noch einen Schritt weiter und merkte an, dass es einige »in den internationalen Sicherheitsdiensten« gebe, die die Möglichkeit nicht ausgeschlossen hätten, dass die Yachtgeschichte »eine Operation unter falscher Flagge« sei. In der Tat, das war sie.

»Es war eine totale Erfindung des US-amerikanischen Geheimdienstes, die an die Deutschen weitergegeben wurde und darauf abzielte, Ihre Geschichte zu diskreditieren«, sagte mir eine Quelle aus den US-amerikanischen Geheimdiensten. Die Desinformationsprofis der CIA wissen, dass eine Propagandamasche nur dann funktioniert, wenn die Empfänger verzweifelt nach einer Geschichte suchen, die eine unerwünschte Wahrheit schmälern oder verdrängen kann. Und die fragliche Wahrheit ist, dass Präsident Joseph Biden die Zerstörung der Pipelines autorisiert hat und es schwer haben dürfte, seine Aktion zu erklären, wenn Deutschland und seine westeuropäischen Nachbarn unter den hohen täglichen Energiekosten leiden, weil Unternehmen geschlossen werden müssen.

Ironischerweise kam der aufschlussreichste Beweis für die Schwäche des Berichts der New York Times von einem der drei Times-Reporter, deren Namen unter der Geschichte standen. Wenige Tage nach der Veröffentlichung des Berichts wurde der Reporter Julian Barnes in dem beliebten NYT-Podcast »The Daily« von Moderator Michael Barbaro interviewt. Hier ist die Abschrift:

»Barbaro: Wer genau war für diesen Angriff verantwortlich? Und wie sind Sie mit den Kollegen vorgegangen, um das herauszufinden?

Barnes: Nun, ich glaube, dass wir während der meisten Ermittlungen nicht die richtigen Fragen gestellt haben.

Barbaro: Hmm. Und was waren die richtigen Fragen?

Barnes: Nun, wir hatten uns logischerweise auf Länder konzentriert.

Barbaro: Hm-hmm.

Barnes: All diese Staaten, die wir gerade durchgegangen sind: Hat Russland es getan? War es der ukrainische Staat? Und das war einfach eine Sackgasse nach der anderen. Wir haben keine Beamten gefunden, die uns sagten, dass es glaubwürdige Beweise gebe, die auf eine Regierung hindeuteten. Also begannen meine Kollegen Adam Entous, Adam Goldman und ich, eine andere Frage zu stellen. Könnte dies von nichtstaatlichen Akteuren getan worden sein?

Barbaro: Hmm.

Barnes: Könnte dies von einer Gruppe von Personen getan worden sein, die nicht für eine Regierung arbeiten?

Barbaro: So etwas wie freiberufliche Saboteure. Wie sind Sie auf diese neue Frage gekommen?

Barnes: Nun, wir begannen zu fragen, wer diese Saboteure gewesen sein könnten. Oder, wenn wir das nicht beantworten könnten, mit wem könnten sie verbündet gewesen sein? Könnte es sich um prorussische Saboteure gehandelt haben? Oder waren es andere Saboteure? Und je mehr wir mit Beamten sprachen, die Zugang zu Geheimdienstinformationen hatten, desto mehr bemerkten wir, wie diese Theorie an Zugkraft gewann.

Barbaro: Hm-hmm.

Barnes: Und mein anfänglicher Gedanke, dass es sich um prorussische Saboteure gehandelt haben könnte, erwies sich als falsch. Wir erfuhren, dass es sich höchstwahrscheinlich um eine proukrainische Gruppe handelte.

Barbaro: Hmm. Mit anderen Worten: eine Gruppe von Menschen, die dies im Namen der Ukraine getan hat. Was haben Sie erfahren, das Sie glauben lässt, dass es so war?

Barnes: Michael, ich möchte betonen, dass wir wirklich sehr wenig wissen, klar? Diese Gruppe bleibt mysteriös. Und sie bleibt nicht nur für uns rätselhaft, sondern auch für die US-Regierungsvertreter, mit denen wir gesprochen haben. Sie wissen, dass es sich bei den Beteiligten entweder um Ukrainer oder um Russen oder um eine Mischung aus beiden gehandelt hat. Sie wissen, dass sie nicht mit der ukrainischen Regierung in Verbindung stehen. Aber sie wissen auch, dass sie gegen Putin und für die Ukraine waren.

Barbaro: Nach all diesen Berichten und Recherchen kommen Sie also zu dem Schluss, dass es sich bei den Tätern um eine Gruppe von Menschen gehandelt hat, die das gleiche wie die Ukraine wollen, aber nicht offiziell mit der ukrainischen Regierung verbunden sind. Nun bin ich neugierig, wie sicher Sie sind, dass diese Personen nicht mit der ukrainischen Regierung verbunden sind.

Barnes: Nun, die Geheimdienstinformationen besagen derzeit, dass sie es nicht sind. Und obwohl uns von offizieller Seite gesagt wird, dass der ukrainische Präsident und seine wichtigsten Berater nichts davon wussten, können wir nicht sicher sein, ob das stimmt und nicht jemand anderes davon wusste.«

Die Reporter der New York Times in Washington waren den Beamten des Weißen Hauses ausgeliefert, »die Zugang zu Geheimdienstinformationen hatten«. Aber die Informationen, die sie erhielten, stammten von einer Gruppe von CIA-Experten für Täuschung und Propaganda, deren Aufgabe es war, die Zeitung mit einer Titelgeschichte zu füttern – und einen Präsidenten zu schützen, der eine unkluge Entscheidung getroffen hat und jetzt darüber lügt.

Übersetzung: Reinhard Lauterbach

seymourhersh.substack.com

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  • Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (24. März 2023 um 14:54 Uhr)
    Nach dem Lesen dieses Artikels bin ich nicht klüger. Was als »Beweis« daherkommt, beruht letzten Endes auch nur auf Verdacht und Vermutungen. Auch die interviewten Gesprächspartner, die Mr. Hersh zu Kronzeugen für die (Mit-)Schuld der USA machen wollte, konnten oder wollten nichts sagen. – Also nehme ich mir das Recht, auch ein wenig zu spekulieren: Beginnend mit dem Herbst letzten Jahres kam von Mal zu Mal weniger Gas aus Russland, stets mit verschiedenen Ausreden begründet. Letztendlich aber, weil Deutschland den Ukraine-Krieg Russlands nicht unterstützte. Weil sich daran nichts geändert hat, bekämen wir wohl immer noch nichts. Dank der zerstörten Nord-Stream-Pipelines muss W. Putin das auch nicht jedes Mal neu und anders begründen. Die Macht des faktischen genügt. Den Satz aus dem Artikel: »Könnte es sich um prorussische Saboteure gehandelt haben?« würde ich beantworten mit: »Ein Motiv gäbe es«. – Übrigens: Wenn Deutschland zunehmend auf erneuerbare Energieträger umsteigt, wird es keinen Bedarf an Gas mehr geben, auch nicht aus Russland. Dann kann Russland auch künftig nichts mehr an deutschen Gasimporten verdienen, selbst wenn Putin die Pipelines reparieren lässt!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (24. März 2023 um 12:38 Uhr)
    Es ist unmöglich, dem Autor einen angemessenen Leserbrief zu schreiben. Schon die letzten zehn Zeilen zu besprechen, wäre nach US-Recht eine Straftat, aber zumindest nicht zulässig, da Staatsgeheimnisse berührt werden könnten. Könnten Sie sich vorstellen, was ein Staatsgeheimnis ist? Machen Sie es sich einfacher: Was ist hoffentlich kein Staatsgeheimnis?
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (23. März 2023 um 20:33 Uhr)
    Wer solche »Werte«-Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Und wer derart devot und feige ist wie die BRD, der ist auch keiner staatlichen Souveränität würdig.

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