Die Gewalt der »Reform«
Von Hansgeorg Hermann
Was sollten die Franzosen auch anderes erwarten? Die sich aus den Fakten ergebende Logik umzukehren und für die eigene Rechtfertigung zu nutzen, ist im politischen Spiel seit Menschengedenken ein alter Hut: Im Interview der TV-Kanäle TF1 und France 2 gönnte sich am Mittwoch der französische Staatschef Emmanuel Macron zwar den Hinweis, der millionenfach auf die Straßen des Landes getragene Protest sei von der Verfassung gedeckt; »nicht legitimiert« seien allerdings »Aufruhr und Gewalt« sowie der angebliche Versuch »der Massen«, den »gewählten Repräsentanten« die Entscheidung über seine »Rentenreform« zu entreißen. Die Tatsachen müssen anders interpretiert werden.
Die von Macron so scharf kritisierte »Gewalt« auf der Straße ging – zahlreiche Fernsehbilder beweisen es – vor allem von den Einsatzkräften aus, die der Präsident nun um 200 Brigaden Gendarmerie aufstocken will. Das wären bis zu 8.000 Männer und Frauen, die in Frankreich nicht der Polizei, sondern der Armee zugerechnet werden. Bereitet sich Macron auf einen Bürgerkrieg vor? »Gewalt«, so sehen es seit den vergangenen Wochen bis zu 75 Prozent der 68 Millionen Franzosen, steckt im Rentendiktat des Präsidenten. Und »Gewalt« wohnt nach Meinung fast aller jungen Franzosen, zu nennen sind Schüler und Studenten, in der mit Hilfe des Verfassungsartikels 49.3 willkürlich diktierten Verlängerung der Lebensarbeitszeit jedes einzelnen Lohnabhängigen um zwei Jahre. Die Entscheidung sei »legal«, sagt der Präsident, obwohl die zuständige demokratische Institution, die Nationalversammlung, über seinen Gesetzentwurf gar nicht abgestimmt hat.
Egal scheint ihm mittlerweile zu sein, was das Volk von ihm und seinem zum Entsetzen der jungen, revoltierenden Menschen mit »brutalem Diktat« erzwungenen Gesetz hält. Wenn er als »unpopulär« gelte, dann nehme er das eben hin. Übersetzt ins Politische heißt das: Der Mann, der zu einem dritten Mandat nicht mehr antreten kann, weil die Verfassung das nicht erlaubt, braucht sich um Stimmungen nicht mehr zu kümmern und wird seine nächsten Projekte, wenn es sein muss, erneut gegen die Bevölkerung durchsetzen. Es bleiben ihm noch vier Jahre, in denen er die fatale Machtfülle, mit der die V. Republik ihre Präsidenten ausgestattet hat, reichlich nutzen kann.
Was kommt als nächstes? Ein schärferes Einwanderungsgesetz womöglich. Es könnte die Reihen in Macrons rechtem Bürgerblocks wieder schließen, der beim Misstrauensvotum gegen die Regierungschefin Elisabeth Borne fast auseinandergefallen wäre. Das Gesetz könnte die beim unverzichtbaren, aber leider oppositionellen Partner Les Républicains (LR) versammelten katholisch-bourgeoisen Rassisten wieder enger an die Regierungsfraktionen Renaissance, Modem und Horizon binden. Und Macron vielleicht einen eleganteren Abgang verschaffen als den, 2027 die Schlüssel zum Präsidentenpalais Marine Le Pen in die Hand drücken zu müssen.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (23. März 2023 um 13:10 Uhr)Macron als Schürhacken. Da es ausgeschlossen war, dass Emmanuel Macron seine Rentenreform zurückziehen würde, war von seinem Fernsehauftritt nicht viel zu erwarten. Er hätte versuchen sollen zu beschwichtigen, doch er hat Öl ins Feuer gegossen: Mit seiner Kritik an den Gewerkschaften am Vorabend eines großen Mobilisierungstages am Donnerstag ging der Präsident in seinem Fernsehinterview das Risiko ein, die Krise zu verschärfen. Dieses Interview ist symbolisch für Macrons Machtausübung, der glaubt, allein gegen den Rest der Welt Recht zu haben. Was die spontanen Demonstrationen betrifft, die von Spannungen mit den Ordnungskräften begleitet werden, vergleicht Macron ohne Abstriche mit den Invasionen des Kapitols in den USA und des brasilianischen Präsidentenpalastes durch verschwörerische und rechtsextreme Randalierer. Elisabeth Borne steht vor der Herausforderung, den Schlüssel zum Parlament zu finden. Während der Präsident ihr erneut sein Vertrauen ausspricht, überträgt er seiner Premierministerin, die kurz vor dem Misstrauensvotum stand, eine unmögliche Aufgabe: die Minderheit als relative Mehrheit auszubauen. Es sind jedoch diese gewerkschaftlichen Kräfte und Oppositionen, mit denen die in die Sackgasse geratene Exekutive wieder in Kontakt treten muss. Macron setzt auf Zeit, dass die politische Krise und die soziale Mobilisierung irgendwann abklingen würden, oder eben verrotten. Aber wie sieht er die unmittelbare Zukunft? Die Zeiten, in denen Emmanuel Macron versprach und vergeblich versuchte, sich neu zu erfinden, scheinen weit weg zu sein. Ade Frankreich!
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Christa K. (22. März 2023 um 21:00 Uhr)… oder »Allons, enfants de la patrie …« wenn le grand Macron schon das Militär auf den möglichen Einsatz vorbereitet … man muss auf jeden Fall weitere Eskalation befürchten!
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