»Sind wir erfolgreich, muss sich der Senat daran halten«
Interview: Fabian Lehmann
Am Sonntag soll in Berlin per Volksentscheid über eine Änderung des Klimaschutz- und Energiewendegesetzes abgestimmt werden. Sollte es erfolgreich sein, müssten die CO2-Emissionen bis 2030 im Vergleich zu 1990 um mindestens 95 Prozent verringert werden. Wie soll innerhalb der verbleibenden sieben Jahre eine Millionenstadt klimaneutral werden?
Wir wissen, dass es nicht leicht sein wird. Aber es ist möglich. So hat die Energy Watch Group recherchiert, dass Berlin die Energieversorgung in Zusammenarbeit mit Brandenburg bis 2030 CO2-neutral gestalten kann. Das Fraunhofer-Institut hat herausgefunden, dass die Fernwärme auch bis 2030 klimaneutral sein kann. Es sind also genügend Maßnahmen auf dem Tisch. Mittlerweile haben fast 40 deutsche Städte und Kommunen aufgrund von Bürgerinitiativen beschlossen, ihre Klimaziele anzupassen. Berlin kann das auch.
Welche Potentiale sehen Sie, um den Ausstoß von Treibhausgasen merklich einzudämmen?
Die drei großen Sektoren sind Energie, Verkehr und Gebäude. Es geht darum, dass wir schnellstmöglich erneuerbare Energien ausbauen und nicht auf Brückentechnologien wie Gas setzen. Auch Wasserstoff hat nur einen sehr kleinen Wirkungsgrad. Wenn wir dagegen auf allen Dächern Berlins Photovoltaikanlagen installieren, könnten wir 25 Prozent des Gesamtstrombedarfs abdecken. Beim Verkehr gibt es interessante Vorschläge aus dem Klima-Bürgerrat, der letztes Jahr stattfand. 100 Berlinerinnen und Berliner haben dort gemeinsam Maßnahmen entwickelt. Sie waren dafür, das Autofahren so unattraktiv wie möglich zu machen. Aber das geht nicht, ohne mit einer höheren Taktung und einem schnellen Ausbau von Bus und Tram Ersatzangebote zu schaffen.
Gebäude sind eine große Herausforderung. Wir müssen sie energetisch sanieren und dabei innovativ denken. Es braucht außergewöhnliche Lösungen, da wir uns in einer Notlage befinden. Berlin hat dank unserer Initiative vor vier Jahren die Klimanotlage ausgerufen, aber es wird nicht entsprechend gehandelt. Wir haben letztes Jahr über eine Viertelmillion Unterschriften für unser Vorhaben gesammelt. Das einzige, was momentan fehlt, ist der politische Wille.
Wie wird sich die Gebäudesanierung auf die Mietpreise auswirken?
Im Gesetzentwurf haben wir formuliert, dass es einen sozial gerechten Ausgleich geben muss. Wenn also Sanierungen zu Mieterhöhungen führen, dürfen diese nicht auf die Mieter umgelegt werden.
Ist die Umsetzung Ihrer Forderung nach Klimaneutralität gefährdet, wenn es in Berlin zur Koalition zwischen SPD und CDU kommt?
Das wird keine Auswirkungen darauf haben, ob der Volksentscheid umgesetzt wird, denn der ist rechtlich bindend. Das ist der große Unterschied zum Volksentscheid »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« vom September 2021. In unserem Fall wird über einen konkreten Gesetzentwurf abgestimmt. Wenn wir erfolgreich sind, muss sich der Senat daran halten.
Aber wenn wir uns ansehen, wie SPD und CDU in den letzten Jahren gestimmt haben, und in die Wahlprogramme gucken, dann wissen wir, dass die Chancen für eine ernsthafte Klimapolitik gering sind. Ohne positiven Volksentscheid können wir nicht davon ausgehen, dass die neue Koalition sich für eine lebenswerte Zukunft in unserer Stadt einsetzt.
Sollte sich Berlin für den Weg zur Klimaneutralität entscheiden, welche Auswirkungen würde das für die Bevölkerung haben?
Luft und Wasser werden sauberer. Die Stadt wird sozial gerechter. Mit weniger Individualverkehr wird die Stadt auch sicherer, wir haben mehr Platz für Begegnungsräume und Grünflächen. Gerade die brauchen wir, damit sich die Stadt im Sommer weniger aufheizt und weniger alte Menschen infolge der Hitzewellen sterben. Was wir jetzt für die Energiewende ausgeben, sind Investitionen in unsere Zukunft. Wenn wir Energie lokal erzeugen, machen wir uns unabhängig von fossiler Energie, die wir bislang importieren müssen.
Jessamine Davis ist Sprecherin der Bürgerinitiative »Klimaneustart Berlin«, die hinter dem »Volksentscheid Berlin 2030 klimaneutral« steht
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