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Aus: Ausgabe vom 22.03.2023, Seite 1 / Titel
Neoliberaler Umbau

Kein Frieden mit Macron

Frankreichs Regierungschefin übersteht Misstrauensantrag. Rentendiktat des Präsidenten vorerst bestätigt, Revolte in den Städten
Von Hansgeorg Hermann, Paris
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Arbeiter blockieren den Zugang zu einem Öllager in Fos-sur-Mer, Südfrankreich (21. März)

Mit denkbar knapper Mehrheit hat die französische Ministerpräsidentin Elisabeth Borne am Montag abend zwei Misstrauensvoten in der Nationalversammlung überstanden. Der parlamentarischen Opposition fehlten nur neun Stimmen für den Sturz der Regierung des Staatschefs Emmanuel Macron, womit auch dessen »Rentenreform« vorläufig gestoppt worden wäre. Für den fraktionsübergreifenden Antrag der kleinen Zentrumsgruppe LIOT votierten 278 Abgeordnete; 287 Stimmen hätten es sein müssen. Auch die Eingabe des ultrarechten Rassemblement National (RN) fand keine Mehrheit. Im von einigen gepanzerten Hundertschaften der Polizei abgeschirmten Palais Bourbon sicherte vor allem ein Teil der oppositionellen Les Républicains (LR) das Überleben Bornes. Das von ihr am Donnerstag mit Hilfe des Verfassungsartikels 49.3 dekretierte Gesetz, das die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre festschreibt, gilt nun – ohne parlamentarisches Votum – als bestätigt. Die linken Oppositionsparteien bereiten einen Bürgerentscheid vor.

In den Straßen von Paris brannten am Abend nach dem verfehlten Regierungssturz die Müllberge – inzwischen mehr als 12.000 Tonnen, die der Streik bei der Müllabfuhr in den vergangenen zwei Wochen hinterlassen hat. Wütende junge Menschen errichteten im Zentrum der Hauptstadt Barrikaden; sie forderten den sofortigen Rücktritt des »verräterischen« Präsidenten und seiner Regierung. Der Staatschef selbst will sich am Mittwoch mittag um 13 Uhr über die Fernsehkanäle TF1 und France 2 in Szene setzen. Die vereinten Gewerkschaften riefen für Donnerstag zu einem neuen Großkampftag gegen das Rentendiktat auf, der von landesweiten Streiks begleitet werden soll. Macrons früherer Fraktionschef im Parlament, Gilles Le Gendre, sprach am Dienstag in einem Interview mit Libération von einem Rentengesetz, das beschädigt sei durch »exorbitante politische und soziale Kosten mit nur bescheidenem finanziellem Ertrag«.

Macron und seine nun politisch stark geschwächte Regierungschefin werden auch für künftige Projekte wie die Verschärfung des Immigrationsgesetzes oder die Entstaatlichung der Sozialsysteme von den 61 LR-Rechtskonservativen im Parlament abhängig bleiben. Sein eigener Bürgerblock aus Renaissance, den Wirtschaftsliberalen des Mouvement démocratique (Modem) sowie der Minipartei Horizon des früheren Premiers Édouard Philippe verfügt in der Nationalversammlung insgesamt nur über eine relative Mehrheit.

Der Präsident wird in seinen letzten vier Amtsjahren gegen die Bevölkerungsmehrheit regieren müssen. 75 Prozent lehnten nicht nur seine »Rentenreform« ab, sondern seine gesamte »von Arroganz, Lügen, falschen Ziffern und einer tiefgreifenden Korruption des demokratischen Zusammenhalts« geprägte Gesellschaftspolitik, erklärte der Sozialist Boris Vallaud im Plenum. Zu fürchten habe der Präsident nun »das Volk«, prophezeite auch Jean-Luc Mélenchon, der Gründer der linken Bewegung La France insoumise (LFI). Der nur knapp gescheiterten Abstimmung im Parlament werde ein »Misstrauensvotum des Volkes« folgen. Rund 250 Abgeordnete beantragten noch am Montag abend ein »Référendum d’initiative partagée« (RIP), einen Volksentscheid, der gemeinsam von mindestens 50 Abgeordneten und einem Zehntel der Wahlberechtigten – in Frankreich rund 4,7 Millionen – getragen werden muss. Die entsprechenden Unterschriften müssen innerhalb von neun Monaten eingesammelt und vom Verfassungsrat anerkannt werden.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (21. März 2023 um 22:23 Uhr)
    Es sind nicht nur die Banken, denen in diesen Tagen im Wertewesten der Bankrott droht. In Frankreich (und auch anderswo) sieht es mit der eingeschlagenen Politik nicht gerade besser aus. Das Parlament ist überhitzt, vom Volk entfernt, die Straße steht unter Spannung und der Präsident der Republik hat sein gesamtes Kapital verschleudert. Die französische Politik steht am Rande eines Crashs. Am Ende ihres legislativen Weges ist die Rentenreform umstrittener als am ersten Tag. Sie vereint gegen ihren Willen die tausend Gründe für Wut - Inflation, Deklassierung -, die das soziale Milieu durchziehen. Wie ein Magnet mit fataler Anziehungskraft bleibt alles, was nach Antimakronismus aussieht, an ihr haften. Die antikapitalistische Wut und der Überdruss der Erwerbstätigen leben im selben Strudel zusammen. Je weiter Emmanuel Macron der endgültigen Verabschiedung des Gesetzes entgegengeht, desto radikaler werden die Proteste. Blockierte Straßen, gestörte Verkehrsmittel, besetzte Campus und bevorstehende Demonstrationen … Die Straße stellt die Entschlossenheit des Staatschefs auf die Probe und mit ihr sein Mandat. Man greift nicht ungestraft die Mutter aller Reformen an. So sehr, dass mit dieser »Reform« alles, was Emmanuel Macron seit seinem verzinkten, »überraschenden Wahlsieg« 2017 mit sich herumträgt, mit Recht jetzt von der Protestwelle weggespült wird.

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