Das Nötigste ist extra teuer
Von Alexander Reich
Im Bundestag sollte es am Freitag um »Maßnahmen gegen die anhaltend hohen Lebensmittelpreise« gehen. 60 Minuten waren eingeplant, die Fraktion Die Linke zog den Antrag auf die Durchführung einer »Aktuellen Stunde« dann aber »wegen des erheblichen Verzugs des Plenartags« zurück. Es gab im Hohen Haus an diesem Tage Wichtigeres zu besprechen als die Massenverarmung durch Extraverteuerung der billigsten Grundnahrungsmittel, etwa die Geschlechterparität im Wahlrecht.
Dass die vier großen Handelsketten gerade das Allernötigste verteuern, war am Donnerstag durch eine Studie von Foodwatch aufgezeigt worden. Lebensmittel, auf die die Ärmsten »am meisten angewiesen ist, sind viel stärker im Preis gestiegen als der Rest«, teilte die Verbraucherschutzorganisation mit. Produkte von Billigmarken wie »Milsani« von Aldi, »Milbona« von Lidl (Kaufland), »Gut und Günstig« von Edeka (Netto) oder »Ja!« von Rewe (Penny) verteuerten sich im Jahr 2022 demnach um sagenhafte 30,9 Prozent. Das Wörtchen »durchschnittlich« braucht es an dieser Stelle nicht, wenn man Foodwatch folgt: »Alle sogenannten Preiseinstiegs-Eigenmarken kosten bei den großen Supermärkten in der Regel auf den Cent das Gleiche. Erhöht ein Händler den Preis, kann man sich sicher sein, dass innerhalb weniger Tage die anderen nachziehen.«
Käufer von Markenprodukten waren nicht einmal halb so stark von der Teuerung betroffen, hier lag die Rate im Schnitt bei »nur« 14,5 Prozent. Und dabei schlugen die Handelsriesen mächtig Alarm wegen Preisforderungen von Markenherstellern. Rewe erklärte zum Beispiel 8,7 Prozent Preisanstieg für »Kellog’s Choco Crispies« zum Unding. Das Trash-Food wurde ausgelistet zugunsten der unschlagbar billigen Alternative »Ja!-Choco Chips«. Deren Teuerung lag übers Jahr bei 25 Prozent.
Bei Aldi, wo der Anteil der Eigenmarken höher ist als bei der Konkurrenz, wurde das Markenmehl Aurora zwar um 33 Prozent teurer, ohne aus dem Sortiment zu fliegen; beim Mehl der Eigenmarke Goldähre lag die Rate allerdings bei stolzen 75 Prozent. Dieser Wert wurde laut Foodwatch »insbesondere bei sättigenden Grundnahrungsmitteln wie Nudeln, Reis, Mehl oder Hülsenfrüchten« wiederholt erreicht, aber auch bei Molkereiprodukten wie Käseaufschnitt oder Joghurt.
Viele Millionen, die mit dem Billigsten über die Runden kommen müssen, zahlen im Supermarkt also deutlich mehr drauf als jene, die für ein bisschen Lebensgefühl aus der Werbung gerne ein paar Euro mehr ausgeben. Und noch bei einem typischen Warenkorb mit Aldi-Eigenmarken – Nudeln, Reis, Öl, Tomatenmark, Milch, Käse ... – lag die Teuerung deutlich über der offiziellen Zahl für Lebensmittel, nämlich bei 32,6 Prozent.
Ende 2021, also noch vor den Preisexplosionen des vergangenen Jahres, waren »in Deutschland etwa 12,5 Millionen Menschen zumindest zeitweise von Ernährungsarmut betroffen«, steht in der Studie von Foodwatch, die mit Hilfe einer App namens Smhaggle erhoben wurde, bei der Leute ihre Kassenbons von Lidl, Netto und Co. hochladen. Schon für Bezieher von Hartz IV sei eine »ausgewogene und gesunde Ernährung praktisch nicht möglich« gewesen, erklären die Autoren. Mit dem Bürgergeld ist es jetzt noch viel schlimmer.
Eine stetig wachsende Zahl von Menschen kann sich kein Obst und Gemüse mehr leisten, hat Michael Stiefel vom Armutsnetzwerk beobachtet. Sie seien zum Kauf von energiedichten Lebensmitteln gezwungen, die viele Kalorien, aber kaum Vitamine und Nährstoffe enthielten.
Foodwatch fordert eine deutliche Erhöhung des Bürgergelds und die Aussetzung der Mehrwertsteuer auf Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte.
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