Wie rechts ist der Kreml?
Von Harald Projanski
Aus Sicht des Yale-Geschichtsprofessors Timothy Snyder ist Moskau »zum Zentrum des Faschismus der Welt geworden«. Der »russische Überfall«, so Snyder in einem Interview mit dem Tagesspiegel, sei »von Anfang an ein Vernichtungskrieg« gewesen. In einem Beitrag in der New York Times vom 19. Mai 2022 hat Snyder seine Thesen ausführlich dargelegt. Die Überschrift des Textes fasst sein Anliegen zusammen: »Wir sollten es sagen. Russland ist faschistisch.« Die Begründung: Das Land habe einen »Kult um einen einzigen Führer«, einen »Kult des Todes, organisiert um den Zweiten Weltkrieg« und einen »Mythos von einem vergangenen goldenen Zeitalter imperialer Größe«. Ohne es zu belegen, behauptet Snyder, Russland stehe für eine »Rückkehr zu traditioneller faschistischer Sprache und Praxis«.
Frieden durch Sieg
Aus seinen Thesen schlussfolgert Snyder die Notwendigkeit eines Krieges gegen das »faschistische« Russland. »Der faschistische Führer muss niedergeschlagen werden, was bedeutet, dass diejenigen, die sich dem Faschismus widersetzen, tun müssen, was notwendig ist, um ihn zu besiegen.« Denn wenn Russland in der Ukraine gewinne, wäre die Folge »eine Demoralisierung der Demokratien überall«. Der Schlusssatz des Textes in der New York Times: »Wenn die Ukraine nicht gewinnt, können wir Jahrzehnte von Dunkelheit erwarten.«
In einem Aufsatz in Foreign Affairs (6. September 2022) führte Snyder seine Gedanken weiter aus: »Frieden kann nur auf den Sieg folgen. Die Welt könnte einen Olivenzweig bekommen, aber nur, wenn die Ukrainer sich ihren Weg zurück zur See erkämpfen.« Gemeint ist offenkundig die Rückeroberung der Halbinsel Krim, die im März 2014 nach einem Referendum Russland beitrat. Was Snyder propagiert, wäre nur durch Ströme von Blut und die Zerstörung der Städte auf der Krim, darunter der 1942 von den Nazis eroberten Hafenstadt Sewastopol, zu erreichen. Die Folge wäre eine Massenvertreibung von Russen. Snyder, der Russland Faschismus vorwirft, steht selbst für klassische Methoden der faschistischen Demagogie: die Dämonisierung des Gegners, Vernichtungswünsche, die Propagierung des totalen Krieges und die Tabuisierung jedes Gedankens an einen Kompromiss.
Der Versuch, Russland als »faschistisch« zu stigmatisieren, um damit eine Eskalation militärischer Gewalt gegen das Land und seine Verbündeten zu rechtfertigen, begann nicht erst mit dem russischen Einmarsch in der Ukraine ab Ende Februar 2022. Bereits am 17. Mai 2014 behauptete Snyder in einem Interview mit der FAZ, »das heutige russische Regime« mache »kein Geheimnis daraus, dass es die internationale Rechte verkörpert«. Zugleich warf Snyder der »europäischen Linken« ein »intellektuelles Versagen« hinsichtlich der Ukraine vor. Er behauptete, »dass der Protest auf dem Maidan eine linke Revolution war« und dass sich mit dem Umsturz in der Ukraine »eine große linke Revolution vollzog«. Die Äußerungen fielen einen Monat, nachdem die durch einen Putsch an die Macht gekommene neue ukrainische Regierung den Krieg gegen die Aufständischen im Donbass begonnen hatte, getarnt als »antiterroristische Operation« und mit Hilfe neofaschistischer Einheiten wie »Asow«.
Snyders Auftritte haben vor allem die Funktion, linkes und linksliberales Publikum mit antifaschistischem Wortgeklingel auf eine bedingungslose Unterstützung Kiews einzuschwören. Damit ist Snyder sehr erfolgreich. So beeinflusst und beeindruckt er seit Jahren nicht nur die »Grünen«, sondern auch Teile der Linken.
Erfolg hat Snyder auch mit seiner von der Kiewer Führung übernommenen Sicht, Russland verfolge einen »Genozid« am ukrainischen Volk, wie er in einem Gastkommentar in der Neuen Zürcher Zeitung (12. Januar 2023) ausführte. Die Evakuierung von Frauen und Kindern aus den jetzt von Russland beanspruchten Gebieten im Südosten der bisherigen Ukraine denunziert Snyder als »rassenpolitische Maßnahme«, als agiere Heinrich Himmler im Donbass.
Wie »rechts« ist das heutige Russland wirklich? Die Historikerin Ditte Gerns hat in einer gründlichen Analyse in den Marxistischen Blättern (1/2023) nachgewiesen, dass Wladimir Putin in Nationalitätenfragen andere Positionen bezieht als Lenin.¹ So bewertet Putin Lenins Position der »Anerkennung des Rechtes der Nationen auf Lostrennung« durchweg negativ und begreift offensichtlich nicht die Dialektik, die dieser Idee zu Grunde lag. Lenin hatte ein Konzept, einen multinationalen Staat zu schaffen, der Russen und Ukrainer vereinte. Putin behauptet, Lenin habe durch die Schaffung nationaler Sowjetrepubliken einen »Sprengsatz mit Zeitzünder unter unsere Staatlichkeit« gelegt. Gerns argumentiert dagegen, die »auf Respekt gegenüber allen Nationalitäten Russlands beruhende Politik der Bolschewiki« habe »den Sprengsatz der zaristischen Unterdrückungspolitik, der den Staat zu atomisieren drohte, entschärft«.
Bewunderung des Zarismus
Putin hat es bisher vermieden, bei seinen zahlreichen Äußerungen zur Geschichte eine kritische Einschätzung des Zarenregimes zu geben. Mehr noch, er zeigt eine Tendenz zur Verklärung des Zarismus. Besondere Sympathie hegt er für den Zaren Alexander III. (1845–1894). Zweimal, 2017 und 2021 hielt er eine Rede bei der Einweihung von Denkmälern für diesen Zaren, in Jalta auf der Krim und im Leningrader Gebiet (die das ehemalige Leningrad umgebende Oblast wurde 1991 nicht in Sankt Petersburg umbenannt, jW). Dabei bekannte er deutlich, was ihn an Alexander III. fasziniert. Er würdigte ihn als »herausragenden Staatsmann und Patrioten, einen Menschen von starkem Charakter, von Mut, von unbeugsamem Willen«. Dieser Zar habe »alles für die Entwicklung und Stärkung des Staates getan, um ihn vor Erschütterungen zu bewahren«. Die Herrschaft Alexanders III., so Putin 2017, sei »eine Epoche nationaler Wiedergeburt« gewesen. Im Jahre 2021 ergänzte er, die »Epoche Alexanders III.« sei »das Beispiel einer natürlichen, harmonischen Verbindung gewaltiger technologischer, industrieller und staatlicher Umgestaltungen und der Treue gegenüber unseren nationalen Traditionen und der Kultur«. In diesem Kontext sei es wichtig, so Putin, »das historische, kulturelle, geistige Erbe Russlands zu bewahren«.
Alexander III., dessen Ausspruch, Russland habe nur zwei Verbündete, seine Armee und seine Flotte, jetzt in Russland immer wieder zitiert wird, war ein ausgeprägt reaktionärer Zar. Er stand unter dem Einfluss Konstantin Pobedonoszews, des erzkonservativen Vorsitzenden des Heiligen Synods, der staatlichen Aufsichtsbehörde über die Kirche. Dessen Amt machte den Klerus zum integralen Teil des Zarenregimes. Alexander III. verhinderte jegliche Reform, die auf eine Verfassung und die Schaffung einer gewählten Volksvertretung hätte hinauslaufen können.
Elf Jahre nach dem Ende der Ära Alexander III. brachen die von dessen Regime ignorierten Widersprüche zwischen Gutsbesitzern und Bauern, Arbeiterklasse und Bourgeoisie in der Revolution von 1905 offen aus. Putins positiver Bezug auf die erzkonservative Ära Alexander III. führt ihn logisch zur Verehrung russischer Ultrakonservativer. Immer wieder hat er sich lobend über den Philosophen Iwan Iljin geäußert, der 1922 gemeinsam mit anderen bürgerlichen Intellektuellen auf einem »Philosophendampfer« Sowjetrussland verlassen musste. So würdigte Putin Iljin in einer Rede am 30. September 2022 als »wirklichen Patrioten« und zitierte ihn mit einer Aussage über seinen »Glauben an die geistigen Kräfte des russischen Volkes«.
Bei seinem Versuch, Putin des Faschismus zu überführen, stuft Timothy Snyder den Philosophen Iljin als »Faschisten« ein. Ähnlich, wenn auch etwas differenzierter argumentiert, der französische Philosoph Michel Eltchaninoff in seinem Buch »In Putins Kopf«. Eltchaninoff zitiert Iljin aus einem Artikel nach dem Machtantritt der Nazis. Darin hatte der russische Philosoph den Anhängern Hitlers »Patriotismus, Glaube an die Identität des deutschen Volkes und die Kraft des germanischen Genius« bescheinigt. Doch Eltchaninoff erwähnt auch, dass diese Sympathien Iljins »nur vorübergehend waren« und er mit dem Naziregime nicht kooperieren wollte. 1938 emigrierte Iljin deshalb in die Schweiz. Später warf er den Nazis ihre antichristliche Ideologie und die Schaffung eines totalitären Staates vor.
Wer Iljins Schriften liest, kann feststellen, dass seine Ideen nicht im Faschismus, sondern im Zarismus und im russischen orthodoxen Christentum wurzeln. Das ist eine entscheidende Differenz zwischen dem Kreml und der Staatsmacht in Kiew. Eine Rechtfertigung und Rehabilitierung von Nazikollaborateuren ist in Russland ausgeschlossen. In der Ukraine hingegen sind die Nazikollaborateure Stepan Bandera und Roman Schuchewitsch per Präsidentendekret in den Rang von Nationalhelden erhoben worden. Dort erhielt die 10. Gebirgsjägerbrigade der Armee am 14. Februar durch ein Dekret des ukrainischen Präsidenten offiziell den Namen »Edelweiß«, den auch die 1. Gebirgsdivision der Hitler-Wehrmacht getragen hatte.
Verhältnis zum Sozialismus
Bei allem Konservatismus des Kremls steht die antifaschistische Ausrichtung der russischen Führung außer Frage. Diese Linie hat Putin am 28. Februar in einer Rede vor dem »Kollegium«, also dem leitenden Kaderstamm des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB), bekräftigt. Darin warnte er vor »Versuchen des Kiewer Regimes«, gegen Russland »terroristische Methoden« unter Einsatz von »Extremisten« anzuwenden. In diesem Zusammenhang forderte er den FSB auf, »die gesetzeswidrige Tätigkeit derer zu unterbinden, die versuchen, uns zu spalten, unsere Gesellschaft zu schwächen, Separatismus, Nationalismus, Neonazismus und Xenophobie als Waffe zu nutzen«.
Wer Putins Reden in den vergangenen zwei Jahrzehnten aufmerksam verfolgt hat, für den ist sichtbar, dass die ultrakonservativen Ideen Iljins nur eine der vielen Quellen von Putins widersprüchlicher Weltanschauung sind. Wladimir Putin stammt aus einer sowjetisch geprägten Familie. Antikommunismus, untrennbares Element jeder rechten Ideologie, ist ihm fremd. In der »demokratischen« Ukraine hingegen ist die Kommunistische Partei verboten, im »faschistischen« Russland aber ist sie die stärkste Oppositionspartei. Der Versuch, Putin einen Hitler-Bart anzukleben, funktioniert nur bei einem Publikum, das wesentliche Teile der Wirklichkeit ausblendet.
Auf einer Tagung im Kreml mit den Fraktionschefs der Staatsduma und der Parlamentsführung am 7. Juli 2022 sagte Wladimir Putin, dass die »herrschenden Klassen der westlichen Länder« sich in ihrer Politik »mehr und mehr von den Realitäten losreißen«. Darauf antwortete der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, Gennadi Sjuganow, es gelte, »den amerikanischen Globalismus zu stoppen, der versucht, allen seine Bedingungen zu diktieren«.
Sjuganow zitierte eine Aussage Putins vor dem Waldai-Klub, einem internationalen Dialogforum von Experten, der Kapitalismus befände sich in einer Sackgasse. Darauf entgegnete Putin: »Was die sozialistische Idee betrifft, so ist daran nichts Schlechtes.« Die Frage sei, mit welchem Inhalt man sie fülle. In »einigen Ländern«, so Putin, gelinge das, da sei der Sozialismus »mit marktwirtschaftlichen Formen der Regulierung« verbunden. Der russische Staatschef bezog dies vor allem auf die Volksrepublik China. In welcher Form »der Staat seine Tätigkeit in der Sphäre der Wirtschaft regeln« solle, »werden wir im Zuge der Diskussion, im Streit entscheiden«, so Putin. Damit signalisierte Russlands Präsident, dass es in Russland entgegen aller Klischees vom russischen »Totalitarismus« eine kontroverse Diskussion über Wirtschaftspolitik gibt. Auch die Position der Kommunisten, das zeigte die Debatte Putins mit Sjuganow, gehört dabei zum Spektrum der akzeptierten Meinungen. Gesellschaftliche Planung und Leitung der Volkswirtschaft sind heute in Russland, anders als noch zu Zeiten des Präsidenten Boris Jelzin, keine Tabuthemen mehr.
Immer wieder bekannte sich Putin dazu, dass er viele Jahre aktiver Kommunist gewesen war. »Wissen Sie, ich war genauso wie Millionen russischer Bürger, mehr als 20 Millionen, Mitglied der Kommunistischen Partei der Sowjetunion«, sagte Putin am 25. Januar 2015 auf einem Forum der »Allrussischen Volksfront«, einer überparteilichen Sammlungsbewegung. Zur sowjetischen Tradition, die im heutigen Russland wieder positiver rezipiert wird, gehört auch eine differenzierte Minderheitenpolitik. Auch darauf bezieht sich die russische Führung.
Im Kontrast zu den Thesen westlicher Propagandisten vom »faschistischen« oder »rassistischen« Charakter der russischen Politik und vom vermeintlichen »Genozid« an den Ukrainern stehen öffentliche Aussagen von Putin vom 14. Oktober 2022 zur ukrainischen Sprache. Auf einer Pressekonferenz zum Abschluss eines Arbeitsbesuchs in Kasachstan nannte er eine Geldstrafe, die ein Bürger in Moskau für das Hören ukrainischer Musik zahlen sollte, »völligen Blödsinn«. Er sagte, Ukrainisch gehöre zu einem der Subjekte der Russischen Föderation und auf der Krim zu den staatlichen Sprachen, ebenso wie das Krim-Tatarische.
Putin sprach davon, dass in Russland »etwa drei Millionen Ukrainer« lebten. Er stellte die Frage: »Wie können wir etwa ihre Sprache und Kultur verbieten? So etwas kommt uns nicht in den Kopf.« Der russische Präsident fügte hinzu, »in vielen unserer Familien kennt, hört und liebt man ukrainische Lieder, die ukrainische Kultur. Schon in der Sowjetunion waren Hits in ukrainischer Sprache sehr beliebt«. Im Konflikt mit der »gegenwärtigen Führung der Ukraine«, so Putin, »geht es überhaupt nicht um Kultur«. Russland wende sich gegen »Fackelzüge« von Neonazis und gegen »Leute, die mit nazistischer Symbolik herumlaufen«. Dies aber, so Putin, habe »mit der ukrainischen Kultur direkt nichts zu tun«.
Die europäische Rechte
Kennzeichnend für die westlichen Qualitätsmedien ist, dass sie diese prinzipielle Stellungnahme des russischen Staatschefs konsequent verschwiegen. Viel Raum aber widmen westliche Medien statt dessen Versuchen der russischen Führung, Kontakte zu rechtspopulistischen und reaktionären Kräften in Europa zu knüpfen. Die Bedeutung dieser Beziehungen für Russland aber ist sowohl von der russischen Führung als auch von deren Gegnern jahrelang überschätzt worden. Liest man etwa das auf der Webseite des Kremls dokumentierte Protokoll eines Treffens von Putin mit der Chefin des »Front National« (jetzt »Rassemblement National«) vom 24. März 2017, dann wird der begrenzte Charakter dieser Beziehung offensichtlich. Putin signalisierte keineswegs, dass er die Politik der Partei von Le Pen unterstütze. Er betonte lediglich, er habe »das Recht, sich mit allen Vertretern aller politischen Kräfte« Frankreichs zu unterhalten.
Wie wenig die Kontakte mit der Le-Pen-Partei für Russland letztlich wert waren, zeigte sich nach dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine Ende Februar 2022. Le Pen ließ eine Wahlkampfbroschüre vernichten, die sie auf einem Foto mit Putin zeigt. Sie verurteilte das militärische Vorgehen Russlands, ebenso wie die Alternative für Deutschland (AfD). Der von Le Pen inthronisierte neue Parteivorsitzende Jordan Bardella sprach sich für Waffenlieferungen an die Ukraine aus und forderte im Chor mit den anderen NATO-Parteien eine »moralische politische und materielle Unterstützung der Ukraine«.
Lange hatte die politische Elite in Moskau nicht sehen wollen, was ihr jetzt der Krieg vor Augen führt: Die Rechtspopulisten und rechtsreaktionären Kräfte in Europa sind, so »oppositionell« sie sich auch gegen das »Establishment« aufführen, ein Teil des herrschenden Systems. Hinzu kommt, dass sie letztlich in der Tradition jener faschistischen Kollaborateure stehen, die an der Seite der Hitler-Truppen am Überfall auf die Sowjetunion teilnahmen. Es kann keine Solidarität geben zwischen denjenigen, die den Zweiten Weltkrieg gewonnen und denjenigen, die ihn verloren haben.
Der Krieg, den Russland in den jetzt von ihm proklamierten Grenzen gegen das von der NATO unterstützte Kiewer Regime führt, hat in der politischen Elite Moskaus zu einem Abschied von Illusionen über den Charakter der westlichen Eliten geführt. Wie sehr sich die russische Sicht auf die westlichen »Partner« verändert hat, machte Putin in seiner Rede am 30. September 2022 zum Beitritt von vier bisherigen ukrainischen Gebieten zur Russischen Föderation deutlich. Der Westen, so der russische Präsident, sei interessiert »an einer Bewahrung jenes neokolonialen Systems, das es ihm erlaubt, zu parasitieren«. Die westlichen Eliten, so Putin, »leugnen nicht nur die nationale Souveränität und das Völkerrecht«. Ihre Hegemonie habe auch »den Charakter des Totalitarismus, des Despotismus und der Apartheid«. Die »heutigen westlichen Rassisten« seien »Kolonisatoren geblieben«. Sein Fazit: »Sie diskriminieren, teilen die Völker in erste und zweite Sorte ein.« Dabei bezog sich Putin ausdrücklich positiv auf die Geschichte der Sowjetunion: »Wir sind stolz darauf, dass unser Land im 20. Jahrhundert die antikoloniale Bewegung anführte, die vielen Völkern der Welt die Entwicklungsmöglichkeiten eröffnete, Armut und Ungleichheit zu reduzieren, Hunger und Krankheiten zu besiegen.«
Antikoloniale Tradition
In diesem Sinne sprach Putin am 22. November 2022 in Moskau an der Seite des Ersten Sekretärs der Kommunistischen Partei Kubas, Miguel Díaz-Canel, bei der Einweihung eines Denkmals für Fidel Castro. Fidel habe, so Putin, sein ganzes Leben »dem Frieden und der Gerechtigkeit, der Freiheit der unterdrückten Völker, einem würdigen Leben der einfachen Menschen und der sozialen Gerechtigkeit« gewidmet. Er betonte die »Energie und den unbeugsamen Willen« Fidel Castros. Der habe, so Putin, davon gesprochen, »dass in einer wirklich gerechten Welt kein Platz ist für Diktat, Raub und Neokolonialismus«.
Wäre Moskau, wie Snyder und andere US-amerikanische Propagandisten behaupten, »das Zentrum des Faschismus in der Welt«, dann würde Putin sich nicht in die Tradition des antikolonialen Kampfes und der kubanischen Revolution stellen. Dann befände er sich auf der anderen Seite der Front, dort, wo Snyder und das faschistische Regiment »Asow« stehen.
Anmerkung
1 Gekürzt ebenfalls erschienen auf den Themaseiten der jungen Welt vom 6. Januar 2023.
Harald Projanski schrieb an dieser Stelle zuletzt am 2. Februar 2023 über die Niederlage der Wehrmacht bei Stalingrad.
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Eine Klassenfrage
Einfluss rechtsextremer Akteure auf die Politik sollte für Russland ebenso analysiert und dargestellt werden.
Was der Autor auch nicht erwähnt: Putins Äußerungen bezüglich »traditioneller« Familie, traditioneller Werte, Ehe usw. usf. Was so auch eins zu eins von Rechten bis Rechtsradikalen im Westen immer wieder geäußert wird. Also der Gegensatz zu »westlicher Dekadenz«, worunter so etwas verstanden wird, dass Schwule und Lesben heiraten dürfen, wo man sogar schon anfängt die Dichotomie von biologischen Geschlechtern in Frage zu stellen (Gott bewahre!), oder wo Männer jetzt zu sensiblen »Weicheiern« erzogen werden sollen, obwohl eine Nation doch starke Krieger brauche. Putin inszeniert sich, so kommt es mir jedenfalls vor, mehr als früher als Verfechter der »globalen Konservativen«, wenn man so will, und deswegen ist der ja bei ebenjenen so beliebt. Macht ihn das schon zum Faschisten? Nein, natürlich nicht, gehört aber auch zum ganzen Bild. Aber in der Tat, die Beziehung der westlichen Rechten zu Russland ist kompliziert. Weil die Rechtsradikalen im Westen z. B. bestimmt nicht den Sieg der »Bolschewisten« über die deutsche Herrenrasse bejubeln, oder irgendetwas mit Antifaschismus anfangen können. Wobei Putins Antifaschismus ja auch etwas anders konnotiert ist, als was man im Westen darunter versteht. Es ist kompliziert. Im heutigen Russlands wird es ja fertig gebracht, sich sowohl positiv auf das Zarenreich als auch auf die UdSSR zu beziehen, womit man dann den Gefühlen aller in der Bevölkerung Rechnung trägt, alle fühlen sich irgendwie dazugehörig.