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Aus: Ausgabe vom 04.03.2023, Seite 2 / Kapital & Arbeit
Blut für Profite

»Wir haben unsere Gesundheit aufs Spiel gesetzt«

Gefährliche Arbeitsbedingungen bei Radlogistiker mit öko-sozialem Image. Berliner Standort dichtgemacht. Ein Gespräch mit Helen Winckler
Interview: Carina Scherer
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Wo gewöhnliche Lastenräder noch durchkommen, können die UM-Modelle schon mal mitten auf einer Kreuzung versagen (Berlin, 3.2.2023)

Zum Jahresbeginn haben die Velocarrier GmbH und Ecocarrier AG 20 Zustellerinnen und Zusteller entlassen. Sie sind eine davon. Worum handelt es sich bei den Unternehmen?

Velocarrier und Ecocarrier sind Radlogistikunternehmen, die sich Nachhaltigkeit und faire Arbeitsbedingungen auf die Räder schreiben. Sie betonen, Wert darauf zu legen, dass Fahrerinnen und Fahrer angestellt sind und ihnen Arbeitshandy, Arbeitskleidung sowie Fahrräder gestellt werden. Außerdem werben sie mit einem höheren Gehalt von 13 Euro pro Stunde. Wir belieferten Kundschaft mit Biokisten und Rewe-Produkten.

Inwieweit wurden die Versprechen, nachhaltig und sozial zu sein, eingehalten?

Zu Beginn meiner Anstellung vor einem Jahr gab es weniger Probleme. Aber mit der Zeit haben sich unsere Arbeitsbedingungen enorm verschlechtert. Die Fahrräder wurden nicht gewartet. Viele standen kaputt im Hof. Wir wurden manchmal angewiesen, Benzin-Sprinter auszuleihen, um die Ware zu transportieren. Die Räder, die wir noch benutzt haben, waren teilweise so kaputt, dass wir etlichen Gefahrensituationen ausgesetzt waren. Einmal stand ich mitten auf einer großen Kreuzung und das Fahrrad hat nicht mehr beschleunigt. Diese UM-Lastenräder sind wie kleine Lkw: schwer und sperrig. Bei denen passiert ohne elektrische Unterstützung nichts, wenn man in die Pedale tritt. Plötzlich ging eine Sirene los und ein Krankenwagen kam auf mich zu. Ich konnte nicht wegfahren und geriet in Panik. Zum Glück gab es genügend Platz, so dass der Krankenwagen an mir vorbeifahren konnte.

An wen haben Sie sich in solchen Fällen gewandt?

Zu Beginn gab es eine Niederlassungsleitung in Berlin. Später mussten wir uns selbst Lösungen einfallen lassen, was einiges an Mehrarbeit bedeutete, die nicht vergütet wurde.

Worin unterscheiden sich die beiden Unternehmen?

Ich wurde vor einem Jahr bei Velocarrier unter Vertrag genommen. Ein paar Monate später wurde uns von der Niederlassungsleitung berichtet, dass Velo- zu Ecocarrier wird und wir alle neue Verträge bekommen würden. Wir sollten innerhalb von zwei Tagen ein Datenschutzblatt mit unserem Einverständnis unterschreiben. Dabei hatte niemand von uns – einschließlich der Berliner Leitung – verstanden, was es damit auf sich hatte. Bis heute haben wir unterschiedliche oder teilweise gar keine Verträge, obwohl wir alle exakt dieselbe Arbeit verrichteten. Und auch jetzt bei den Kündigungsklagen, die über zehn unserer Leute mit Hilfe der FAU (Freie Arbeiter*innen-Union, jW) eingereicht haben, werden diese unterschiedlich abgewickelt.

Wie verliefen die Kündigungsklagen bisher?

Die erste Person, die gegen die Velocarrier geklagt hat, war zufrieden mit der Entscheidung des Richters. Zahlreiche Gerichtstermine gegen Ecocarrier wurden wiederum am selben Tag verschoben, teils mit der Begründung, dass die Einladung zum Gerichtstermin nicht korrekt an den Arbeitgeber zugestellt wurde. Was uns stutzig macht, ist, dass der Brief bereits zwei Wochen zuvor rausging und erst einen Tag vor dem Gerichtstermin festgestellt worden sei, dass er nicht korrekt zugestellt wurde.

Sind Sie dem CEO jemals begegnet?

Am 30. November gab es eine Versammlung mit Raimund Rassilier und einem Teil der Berliner Belegschaft. Uns wurde gesagt, dass ab Januar alle Probleme gelöst und die Unternehmen expandieren würden. Er wirkte sympathisch. Um so größer war der Schock, als kurz vor Weihnachten der Absprung des Großkunden Rewe und dann einen Tag vor Neujahr die ersten Kündigungen ankamen. Zwei Wochen später verkündigte der CEO in einem Telefonat mit einem Kollegen die Schließung des Standortes, in den nächsten Tagen kamen weitere Kündigungen rein.

Wie wurden diese begründet?

Engpässe in der Auftragslage. Wir glauben, dass die Unternehmen aufgrund von absolutem Missmanagement den Standort schließen. Das hätte sich vermeiden lassen, wenn wir von Anfang an mit unseren Forderungen und Vorschlägen ernstgenommen worden wären. Wir haben unsere Gesundheit aufs Spiel gesetzt, haben trotz Rücken- und Knieschmerzen weitergearbeitet. Wir fühlen uns benutzt. Sie werfen uns lieber weg, anstatt zu versuchen, Probleme zu lösen. Wir sind Menschen, wir verdienen Respekt.

Helen Winckler (Name ist der Redaktion bekannt) war Lastenradkurierin für Velo-/Ecocarrier und ist aktiv in einer Betriebsgruppe der FAU

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