Stimmen aus der Klandestinität
Von Nick Brauns
Linke Stimmen aus der Ukraine und Russland hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung für eine am Freitag zum Jahrestag des russischen Einmarsches in die Ukraine per Livestream übertragene Veranstaltung angekündigt. Referieren sollen für die ukrainische Seite der Anarchist Sergei Mowtschan und die Wissenschaftlerin Oxana Dutschak, Redakteurin der Zeitschrift Commons. Beide rufen aus dem deutschen Exil zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte auf, die sie in einem nationalen Unabhängigkeitskampf gegen Russland sehen. Das ist auch die Position der in Deutschland etwa von Teilen der Partei Die Linke und von der Monatszeitung Analyse & Kritik hofierten Sozialen Bewegung (Sozialnij Ruch), die mit ihren nach eigenen Angaben rund 100 Mitgliedern als bedeutendste antikapitalistische Organisation der Ukraine (wo unter anderem die Kommunistische Partei verboten wurde) dargestellt wird. »Heute kämpfen alle, alle stehen an der Front und verteidigen die Ukraine: Linke, Anarchisten, die Gewerkschaften, die Mittelschicht, die extreme Rechte«, rühmt sich deren Mitglied Wladislaw Starodubtschew in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Konkret. »Die Rechten haben ihr Monopol verloren. Sie sind nicht mehr die einzigen, die sagen: Wir sind Patrioten, also hört uns zu.«
Doch es gibt auch andere, hierzulande kaum bekannte Standpunkte in der ukrainischen Linken. »Es handelt sich um einen imperialistischen Krieg zwischen der NATO und Russland auf dem Boden der Ukraine«, zeigt sich Dmitri überzeugt. »Wer sich dabei an die Seite einer der beiden kriegführenden Seiten stellt, betrügt die Arbeiterklasse.« Die linke Politkneipe Bandito Rosso in Prenzlauer Berg ist am Dienstag bis auf den letzten Platz gefüllt. Etwa 40 Interessierte lauschen konzentriert den Ausführungen von Dmitri und seinem Genossen Romano, die auf Einladung der Gruppe Revolutionäre Perspektive Berlin online aus der Ukraine zugeschaltet sind.
Dmitri hat sich vermummt mit schwarzem Halstuch und Kapuze, Romano hat seine Webkamera gar nicht erst eingeschaltet. »Wenn bekannt würde, wer wir sind, wäre vielleicht nicht gleich unser Leben, aber mit Sicherheit unsere Freiheit in Gefahr«, begründet einer der Aktivisten diese Sicherheitsmaßnahmen. Beide sind Mitglieder der Arbeiterfront der Ukraine (RFU), einer marxistisch-leninistischen Organisation, die 2020 aus einer von Schülern und Studenten gebildeten Gruppe im Messengerdienst Telegram hervorgegangen ist. Inzwischen hat die Organisation nach eigenen Angaben Zellen in allen großen Städten des Landes – außer in den russisch okkupierten Gebieten. Die RFU muss verdeckt arbeiten, ihre Aktivitäten beschränken sich angesichts der Kriegssituation derzeit vor allem auf Bildungsveranstaltungen, Agitation sowie juristische Beratung.
Das Urteil der RFU über Sozialnij Ruch ist eindeutig. Diese Vereinigung vertrete heute sozialchauvinistische Positionen. Vom Geheimdienst SBU werde sie aufgrund ihres linken Anspruchs dennoch überwacht. Dass viele Anarchisten die ukrainischen Streitkräfte aktiv unterstützen, habe mit Anarchismus nichts mehr zu tun, meinen die RFU-Kader. Diese Aktivisten – darunter persönliche Bekannte – müssten sich entscheiden, ob sie auf ihrer Seite oder derjenigen des Staates stehen. Doch die Erfahrungen an der Front hätten einige der anarchistischen Vaterlandsverteidiger bereits zum Umdenken gebracht. Überhaupt käme es angesichts der großen Verluste der ukrainischen Armee inzwischen zu massenhaften Desertionen, berichten die RFU-Aktivisten, die im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten auch auf Agitation unter Soldaten zumindest abseits der Front setzen.
Vor dem Krieg sei die Masse der Bevölkerung in der Ukraine unpolitisch gewesen. Dass nun Nationalismus, Chauvinismus und Russenfeindlichkeit immer stärker auf dem Vormarsch sind, sei vor allem auf Angst zurückzuführen, zeigen sich die RFU-Mitglieder überzeugt. Das werde kein Dauerzustand sein. Die Macht im ukrainischen Staat konzentriere sich zunehmend bei der Selenskij-Regierung. Es könne zukünftig auch zu Spannungen mit den Neonaziregimentern kommen. Die schlimmsten dieser Truppenteile würden allerdings ohnehin schwere Verluste an der Front erleiden, so Dmitri.
Dass prorussische Linke auf die inzwischen annektierten »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk als vermeintlich fortschrittliche Projekte verweisen, sieht die RFU kritisch: Das seien reine »Marionetten Russlands«. Von Volksrepubliken könne keine Rede sein, denn dort gehe heute nichts mehr vom Volk aus. Linke, die an der Gründung der »Volksrepubliken« 2014 beteiligt waren, seien inzwischen meist im Knast, tot oder verschwunden.
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Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (27. Februar 2023 um 12:43 Uhr)Die ukrainische Linke muss ihre »Hausaufgaben« westlich der Frontline machen! Was die Volkrepubliken mal waren, nämlich ein stark von der KPU beeinflusstes Projekt, waren sie am 24.2.1922 zweifellos nicht mehr – wie auch? Die rund 150.000 Soldaten des Kiewer Regimes hätten die 35.000 Volksmilizionäre zweifellos so zermalmt ohne russische Unterstützung wie 1995 die von den USA allseitig unterstützte kroatische Armee in der Operation »Oluja« die Truppen der Serbischen Republik um Knin. Deshalb ja der Hilferuf an Russland, die endliche, ziemlich späte Anerkennung der Volksrepubliken durch Putin und der dann allerdings sehr umfassende russische Angriff auf die ukrainischen Streitkräfte am 24. Februar 22. Aber es ist doch ein »himmelweiter« Unterschied zwischen einem volksfeindlichen, USA hörigen, pseudodemokratische Regime, das alle linken Kräfte und »Prorussen« verfolgt, und einem mit der VR China immer enger zusammen arbeitenden, sich mit der KPRF abstimmenden, die Mehrheit der Oligarchen verprellenden und den Staatskapitalismus fördernden Regime. Wer das nicht sieht, hat schon verloren. De facto hat diese ukrainische Linke ja auch nichts gegen die zunehmenden Kriegsvorbereitungen der Selenskij, Jermak und Konsorten mit ihrer immer stärkeren Unterordnung unter USA-NATO-EU unternommen. Das kommt bei »Äquidistanz«-Auffassungen zwangsläufig heraus.
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