»Manche werden zu nervös«
Von Gabriel Kuhn, Jokkmokk
Seit mehr als 30 Jahren veranstaltet Rickard Länta beim Wintermarkt in Jokkmokk Rentierrennen. So auch am vergangenen Wochenende. In diesem Fall nach einer dreijährigen Pause, die Coronapandemie erforderte es so.
Jokkmokk im hohen Norden Schwedens gilt als die samische Hauptstadt des Landes. Hier gibt es samische Schulen, ein Kulturzentrum, ein Museum, zahlreiche Galerien und Handwerksstätten. Jeden Januar treffen sich hier anlässlich des Wintermarkts Sámi aus Schweden, Finnland und Norwegen, dazu kommen viele Touristen. In dem 3.000-Einwohner-Ort tummeln sich plötzlich 20.000 Menschen. Der Wintermarkt in Jokkmokk ist einer der wichtigsten Treffpunkte in Sápmi, wie die Sámi ihr traditionelles Siedlungsgebiet nennen.
Die Rentierrennen werden am Talvatissee, der an den Ort angrenzt, abgehalten. Dort ziehen die Rentiere auf einer etwa 200 Meter langen Rundbahn Schlitten, auf die sich jeder legen kann, der sich traut. Einheimische Jugendliche treten gegen japanische Reisende an, Lokalpolitiker gegen Stockholmer Unternehmer. 2016 gewann der australische Botschafter in Schweden. Alle Teilnehmer bekommen Preise, die Touristen ihre Bilder.
Bei richtigen Rentierrennen geht es anders zur Sache. Hier werden die Teilnehmer auf Bahnen von bis zu einem Kilometer Länge von den Rentieren auf Skiern gezogen, tragen Anzüge und Helme, wie man sie von Abfahrtsläufen kennt, und kämpfen mit harten Bandagen um den Sieg. Sie erreichen dabei Geschwindigkeiten von bis zu 60 km/h. Frauen und Männer treten gemeinsam an, in Anlehnung an den Pferdesport werden sie »Jockeys« genannt. Mindestens 60 Kilo müssen sie auf die Waage bringen, Bleiwesten werden im Falle des Falles genehmigt. Die Jockeys müssen vor allem Kraft in den Oberschenkeln haben, um den Rentieren in aerodynamischer Haltung folgen zu können, ohne von den Skiern zu kippen. Zu den wichtigsten Trainingsformen gehört der Langlauf.
Wettrennen mit Rentieren gebe es seit ewigen Zeiten, meint Veranstalter Länta im Gespräch mit jW, auch über längere Strecken. Die Ursprünge der modernen Rentierrennen lassen sich jedoch in den 1930er Jahren finden. Länta wählt jedes Jahr mit seiner Familie etwa 20 Rentiere aus, um sie für Wettkämpfe zu trainieren. Zum Zug kommen die Tiere mit der meisten Energie und größten Lauffreude. Auch die physischen Voraussetzungen müssen stimmen (groß, stark), ebenso die Nasenlöcher: je weiter, desto mehr Lungenvolumen.
Das Training der Tiere ist keine leichte Aufgabe: Rentiere sind schwer zu zähmen, gewöhnlich ziehen sie in großen Herden frei herum. So wird auch die Hälfte der möglichen Wettkampftiere nach kurzer Zeit wieder zur Herde zurückgeschickt. »Bei Tieren, die keine Freude am Training haben, hat es keinen Sinn«, so Länta. Auch müssen sie unter Wettkampfbedingungen die Ruhe bewahren können. »Manche werden einfach zu nervös.« Die für den Wettkampf geeigneten Rentiere trainieren isoliert von der Herde, kehren jedoch immer wieder in sie zurück. Rentierrennen sind kein Berufssport.
Früher reiste Länta mit seinen schnellsten Tieren zu Wettkämpfen in ganz Sápmi, doch mittlerweile beschränkt er sich auf Rennen in Schweden. Das größte Problem sind die Staatsgrenzen, die die samische Gesellschaft seit Jahrhunderten auseinanderreißen. Zwar gibt es Ausnahmeregeln für Rentierhalter in Grenzregionen, die seit jeher mit ihren Herden zwischen Schweden, Norwegen und Finnland wandern, doch beim Transport von Rentieren zu Rennen gelten härtere Bestimmungen. Vor allem zwischen Norwegen und den EU-Ländern Schweden und Finnland wird jeder Transport zu einem bürokratischen Hindernislauf.
Rickard Länta tritt immer wieder in schwedischen Medien auf, um über die Rechte der Sámi als indigener Gesellschaft sowie den negativen Einfluss von Bergbau, Holzindustrie, Wasserkraft und Windkraft auf die Rentierhaltung zu sprechen. Er gehört dem Sameby Jåhkågasska an, einem der drei Samebyar in Jokkmokk. Wörtlich übersetzt bedeutet »Sameby« so viel wie »samisches Dorf«, doch es handelt sich nicht um eine Ortschaft, sondern um eine Vereinigung von Rentierhaltern, denen vom Staat bestimmte Weidegebiete zugesprochen werden. Dass es in Jokkmokk drei Samebyar gibt, ist ein Zeichen der Bedeutung des Ortes für die samische Gesellschaft.
Auf dem Talvatissee, auf dem Länta jährlich das Publikum des Wintermarkts mit Rentierrennen unterhält, wurden auch schon richtige Wettbewerbe abgehalten. Die größten Rentierrennen finden jedoch in Norwegen statt, das populärste im Rahmen der »Samischen Woche« in Tromsø. Diese wird jährlich um den 6. Februar herum veranstaltet, den samischen Nationalfeiertag. In diesem Jahr steigt das Rentierrennen am kommenden Sonntag. Es ähnelt Langlauf-Sprint-Events in Großstädten, wie man sie aus dem Langlaufweltcup kennt. Im Zentrum Tromsøs wird für die Rentiere und ihre Jockeys eine 201 Meter lange Bahn abgesteckt. Die schnellste je auf dieser Bahn gelaufene Zeit beträgt 14,96 Sekunden. Für 20 Euro ist man als Zuschauer dabei, der Gewinner fährt mit rund 1.500 Euro nach Hause. Leben kann davon niemand, aber für jeden Rentierhalter ist es ein willkommenes Zusatzeinkommen. Auch in Finnland werden Preisgelder gezahlt. Dort trifft man sich für Rennen in der »Santa Claus Town« Rovaniemi, dem Wintersportzentrum Levi und der samischen Kulturhauptstadt Inari.
Rentiererennen sind nicht nur auf Sápmi beschränkt. Im russischen Narjan-Mar, der Hauptstadt der autonomen Region des indigenen Volkes der Nenzen, finden jedes Jahr im März Rentierrennen statt. Hier werden allerdings Kutschen gezogen, keine Jockeys auf Skiern. Jede Kutsche repräsentiert eine Rentierhalterfamilie der Region. Die gleichzeitig stattfindenden Schneemobilrennen sind die moderne Variante.
In Anchorage in Alaska setzt man, wenig überraschend, auf die Show. Der dortige »Rentierlauf« ist Teil des jährlichen Fur-Rondy-Festivals, das Ende Februar, Anfang März stattfindet. Der Rentierlauf ist dem Stierlauf im spanischen Pamplona nachempfunden. Er hat mehr mit Machogehabe als mit Sport zu tun und ist in Alaska sehr beliebt.
In Sápmi betont man bei aller Unterhaltung das Sportliche – und das in jeder Hinsicht. Auf die Frage, in welchen Regionen Sápmis es die schnellsten Rentiere und die besten Jockeys gäbe, zeigt sich Rickard Länta diplomatisch: »Das kommt auf die Bahnen an, zum Beispiel, ob man auf Eis oder auf Schnee läuft. Angesichts der unterschiedlichen Voraussetzungen ist es unmöglich, das zu sagen.« Vorbildlich.
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