Auf Werbefeldzug
Von Michael Schulze von Glaßer
Militärs weltweit haben zwei Probleme: Sie brauchen Zustimmung für ihre Einsätze und für die oft sehr hohen staatlichen Ausgaben zum Unterhalt bzw. zur Aufrüstung der Streitkräfte, und sie brauchen immerzu neue Rekruten, um den Betrieb aufrechtzuerhalten bzw. direkt für den Kriegseinsatz. Vor allem junge Leute stehen dabei im Visier: Zum einen sind sie noch vermeintlich einfach zu beeinflussen und vom Militär und dessen Aufgaben zu überzeugen, zum andern bieten sie Fitness und frische Muskelkraft und sind damit potentiell die Soldaten von morgen. Weltweit sprechen Streitkräfte daher im Auftrag ihrer Regierungen gezielt junge Menschen an: Die USA haben ihr »Junior Reserve Officer Training Corps«-Programm, mit dem sie junge Menschen an den Offiziersdienst heranführen wollen. In Polen wurde im vergangenen Jahr eine obligatorische »Sicherheitsausbildung« für Kinder der achten und neunten Schulklassen eingerichtet – inklusive Schießtraining. In Russland sind mehr als eine Million Kinder und Jugendliche von acht bis 18 Jahren Mitglied in der dem Verteidigungsministerium unterstellten »nationalen militär-patriotischen sozialen Bewegungsorganisation« namens »Junarmija« (Jungarmee). Und in China führt die »Volksbefreiungsarmee« regelmäßig Militärtrainings in Schulen durch. Auch in Deutschland spricht das Militär – die Bundeswehr – gezielt junge Menschen an. Schulen sind dabei einer der wichtigsten Orte.
»Trendwende Personal«
Die von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kurz nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine ausgerufene »Zeitenwende« war auch in Umfragen zu sehen: 63 Prozent befürworteten damals das 100-Milliarden-Euro-Aufrüstungsprogramm für die Armee. Die Zustimmung zu Auslandseinsätzen war im Juli 2022 mit 73 Prozent so hoch wie lange nicht mehr. Aus Sicht von Bundesregierung und Militär könnten die Werte aber noch besser sein. Und es gibt für sie auch weniger erfreuliche Umfrageergebnisse. Das Vertrauen der Bundesbürger in die Armee sank im Januar 2023 – vor allem nach Debatten über kaputte Ausrüstung – im Vergleich zum Vorjahr um acht Prozentpunkte auf insgesamt nur noch 46 Prozent. Es muss also um Zustimmung gekämpft werden – auch schon bei den Wählern von morgen, die heute noch die Schulbank drücken. Sie können zugleich der neue Nachwuchs der Armee sein – aber auch in dieser Hinsicht könnte es für die Bundesregierung besser aussehen.
Aktuell besteht die Bundeswehr aus 183.235 Soldatinnen und Soldaten. Laut der von der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) 2016 eingeläuteten »Trendwende Personal« sollen es 2025 – also schon in zwei Jahren – mehr als 203.000 sein. Die Zahl der Soldaten stagniert aber schon seit zehn Jahren – 2013 lag sie bei 184.044, im Jahr der Bekanntgabe der »Trendwende« bei 177.608. In der Coronazeit sind die Rekrutenzahlen zudem eingebrochen: Konnten 2019 noch 20.070 Männer und Frauen gewonnen werden, waren es 2020 nur noch 16.442, ein Rückgang um 18 Prozent. Dies lag auch daran, dass die Werbung in Schulen nicht stattfinden konnte – so ist die Zahl minderjähriger Rekruten 2020 sogar um 30 Prozent eingebrochen. Auch der völkerrechtswidrige russische Angriff auf die Ukraine hatte nur einen kurzen Mobilisierungsmoment für die Armee: Laut »Bundesamt für Personalmanagement der Bundeswehr« sind die »tatsächlichen Bewerberzahlen für den militärischen Dienst in der Bundeswehr (…) seit Anfang 2022 sogar rückläufig«. All das wird die Armee nicht auf sich sitzenlassen: Sie hat von der vorherigen – und auch von der aktuellen – Bundesregierung klare Zielvorgaben bekommen, die sie erreichen muss. Schon jetzt sind die Werbemaßnahmen an Schulen umfangreich – und könnten in Zukunft noch ausgebaut werden.
Kooperationsvereinbarungen
Es war ein unscheinbarer Satz, den die damalige nordrhein-westfälische Schulministerin Barbara Sommer (CDU) in einer unscheinbaren Pressemitteilung im Oktober 2008 verbreitete: »Ich freue mich sehr, dass wir die gute Zusammenarbeit unserer Schulen mit den Jugendoffizieren durch diese Kooperationsvereinbarungen stärken.« Doch dieser Satz manifestierte einen neuen Höhepunkt der Werbeaktivitäten der Bundeswehr an Schulen. Es folgten Kooperationsvereinbarungen im Saarland (März 2009), in Baden-Württemberg (Dezember 2009), Rheinland-Pfalz (Februar 2010), Bayern (Juni 2010), Mecklenburg-Vorpommern (Juli 2010), Hessen (November 2010), Sachsen (Dezember 2010) und überraschenderweise 2021 in Schleswig-Holstein. Zwar ist die Bundeswehr mit ihren Jugendoffizieren schon mit Beginn der Aufstellung dieser Einheit 1958 – nur drei Jahre nach Gründung der Bundeswehr – an Schulen gegangen, um für sich und die Militärpolitik der jeweiligen Bundesregierung zu werben, doch erst mit den Kooperationsvereinbarungen wurde der Armee der Zugang in die Schulen vertraglich zugesichert. Die Vereinbarungen sehen Besuche von Jugendoffizieren in Schulen vor, eine Veröffentlichung der Veranstaltungsangebote der Bundeswehr in Schulmedien sowie in vielen Bundesländern auch eine Beteiligung der Armee in der Aus- und Fortbildung von Referendaren und Lehrkräften. Auch eine Evaluation ist in den Kooperationsvereinbarungen festgeschrieben: »Jeweils zum Schuljahresende erfolgt ein schriftlicher Bericht der Bundeswehr an das Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen über die Umsetzung der Kooperationsvereinbarung«, heißt es etwa in der Vereinbarung für NRW.
In vielen Bundesländern sorgten die Vereinbarungen für Aufregung bei Lehrkräften und Friedensgruppen – einige Medien berichteten darüber. Im Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg sprachen sich 2011 sowohl die Grünen als auch die SPD für eine Abschaffung des Kooperationsabkommen aus. Als sie dann an die Regierung kamen, wollten sie davon nichts mehr wissen. Immerhin brachte die »grün-rote« Landesregierung 2014 Änderungen (wie es sie mittlerweile auch in den Vereinbarungen von NRW und dem Saarland gibt) auf den Weg: Die Bundeswehr soll nicht mehr in die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften eingebunden werden. Am 30. Oktober 2014 unterzeichneten zudem 17 Organisationen und das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport eine »Gemeinsame Erklärung zur Stärkung der Friedensbildung in den baden-württembergischen Schulen«, aus der kurz darauf eine »Servicestelle Friedensbildung« entstand. Getragen wird die jährlich mit mehr als 100.000 Euro an Steuergeldern ausgestattete Stelle von der Berghof Foundation, der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg sowie vom Ministerium für Kultus, Jugend und Sport selbst. Mittlerweile sind mehrere Referenten für Friedensbildung angestellt. Dennoch ist die Stelle im Vergleich zur Bundeswehr schlecht ausgestattet – für die Armee waren in dem Bundesland 2021 mindestens acht Jugendoffiziere angestellt. Daher ist die eigene Kooperationsvereinbarung bei Friedensgruppen auch nicht unumstritten.
Jugendoffiziere
Jugendoffiziere, junge Männer und Frauen mit langjähriger militärischer Erfahrung, bilden die Speerspitze des Militärs bei der Beeinflussung von Schülern. Die Einheit hatte von Beginn die Aufgabe, die Bevölkerung von der zunächst neuen deutschen Armee zu überzeugen. Heute ist ihr Haupteinsatzbereich das Klassenzimmer. Dafür sind die Jugendoffiziere – seit 2009 gibt es auch Jugendoffizierinnen – im gesamten Bundesgebiet verteilt und suchen zu Beginn jedes Schulhalbjahres Kontakt zu Lehrkräften und Schulen, um von ihnen eingeladen zu werden. Insgesamt gibt es Dienstposten für 94 haupt- und 300 nebenamtliche Jugendoffizier – aufgrund von Nachwuchsproblemen sind jedoch meist nur etwa 80 Dienstposten der Hauptamtlichen besetzt. Denn nicht jeder Soldat kann Jugendoffizier werden: Voraussetzung ist ein abgeschlossenes Hochschulstudium (etwa von einer der beiden Bundeswehr-Universitäten), zudem darf das Höchstalter nicht überschritten werden. Die jungen Offiziere dürfen heute bei Dienstantritt nicht älter als 32 Jahre sein, um noch auf Augenhöhe mit den jungen Menschen der Zielgruppe sprechen zu können. In der Zeitschrift Information für die Truppe werden die Soldaten der Einheit wie folgt beschrieben: Der Jugendoffizier »soll von seinem Auftreten her frisch und jugendlich, kann sogar noch etwas jungenhaft wirken. Er muss redegewandt, schlagfertig und mit einer Portion Humor begabt sein. Er soll ein Mensch sein, zu dem man gern Kontakt sucht und der seinerseits leicht Kontakt findet. Auch soll er ein ausgeprägtes Interesse am politischen und sonstigen Tagesgeschehen haben.« Von der Armee werden die Soldaten entsprechend methodisch-didaktisch und rhetorisch geschult.
Offiziell machen die Jugendoffiziere dabei keine Werbung für den Dienst in der Armee, sondern sollen lediglich über Sicherheitspolitik informieren. De facto verläuft die Grenze zwischen Werbung und Information fließend: Wer der Armee beitreten will, muss sich zuvor von ihr und ihrem Auftritt überzeugt haben – das versuchen die Jugendoffiziere. Zudem verweisen sie oft auf die für die direkte Anwerbung zuständigen »Karriereberater« (bis zur Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 hießen sie »Wehrdienstberater«), haben Werbematerialien dabei oder treten gleich zusammen mit den anderen Armeewerbern auf – etwa bei Jobbörsen an Schulen.
Die Auftritte der Jugendoffiziere in Schulen stehen daher im Konflikt mit dem »Beutelsbacher Konsens«, den bindenden Minimalbedingungen für die politische Bildung an Schulen. In diesen 1976 gefassten Vorschriften heißt es u. a.: »Überwältigungsverbot: Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinn erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der Gewinnung eines selbstständigen Urteils zu hindern.« Des weiteren gilt das »Kontroversitätsgebot«: »Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.« Sowohl durch ihr Auftreten als auch durch die Tatsache, dass Jugendoffiziere an Aussagen des Verteidigungsministeriums gebunden sind, liegt ein Konflikt mit dem Beutelsbacher Konsens vor – von Militärbefürwortern wird dieses Argument gegen die Schuleinsätze indessen übergangen.
Insgesamt hatten die Jugendoffiziere im Coronajahr 2021, von dem es die aktuellsten Zahlen gibt, 2.390 (im folgenden stehen in Klammern zum Vergleich immer die Zahlen des »typischen« Jahres 2016 – damals waren es 5.468) Veranstaltungen mit 47.135 (146.509) Teilnehmern, davon 38.173 (115.779) Schüler. Meist halten die Jugendoffiziere zweistündige Vorträge über aktuelle sicherheitspolitische Themen. 2021 gab es 1.658 (3.276) Vorträge mit 36.342 (92.243) Teilnehmern. Dabei fanden viele dieser Veranstaltung noch online statt – der Jugendoffizier wurde über Webcam zugeschaltet. Das ist für die vor allem über ihr Auftreten wirkenden Soldaten – an den Schulen tragen sie kein Flecktarn, sondern kommen im Dienstanzug – nicht ideal. Neben Vorträgen organisierten die Jugendoffiziere 2021 auch 15 (209) »Besuche bei der Truppe« mit 362 (7.320) Teilnehmern. Eine hohe Nachfrage gibt es laut der Einheit bei Politikplanspielen, die sie anbieten.
Planspiele
Das interaktive Planspiel »Politik und Internationale Sicherheit« wurde in den 1980er Jahren von Wolfgang Leidhold, Mitglied am Seminar für Politikwissenschaft der Universität Köln, und einer interdisziplinären Arbeitsgruppe an der Universität Erlangen entwickelt. Ziel war es, jungen Menschen weltpolitische Zusammenhänge vor allem im Bereich der Ökonomie zu veranschaulichen. 1989 verkaufte Leidhold die Rechte für das Spiel mit der Abkürzung »Pol&IS« an die Bundeswehr. In dem zwei bis fünf Tage dauernden Planspiel schlüpfen die 30 bis 55 Teilnehmer in die Rolle von Staats- und Regierungschefs von 13 Weltregionen, von Nichtregierungsorganisationen oder einer Weltpresse. Sie machen Pläne für eine Spielrunde, können ihr Militär, aber auch Entwicklungshelfer auf einer Weltkarte verschieben und verhandeln miteinander. Für die Bundeswehr sind vor allem zwei Aspekte ausschlaggebend, das Spiel anzubieten: Da es sehr komplex ist, sind die Teilnehmer auf die Hilfe der Jugendoffiziere angewiesen, die bereitwillig unterstützen und so den Spielern ein positives Bild des Bundeswehr-Soldaten vermitteln. Der zweite Aspekt ist die inhaltliche Einflussnahme auf das Spiel: Obwohl es ein umfassendes Regelbuch gibt, können Jugendoffiziere das Handeln der Teilnehmenden frei bewerten und Ereignisse einstreuen. Wer sein Militär abschafft, bekommt einen Bürgerkrieg in seine Region gesetzt; wer Entwicklungshelfer schickt, muss auch Militär zu deren »Schutz« schicken, ansonsten lassen die Jugendoffiziere sie entführen – nur zwei Beispiele der Beeinflussung des Spielverlaufs, die zudem die aktuelle Militärdoktrin der Bundesregierung widerspiegeln. Das rundenbasierte Planspiel gilt bei Lehrkräften als hoch attraktiv und wurde 2016 ganze 207mal durchgeführt, woran 8.581 Personen – 7.623 Schüler und Studierende sowie 958 Lehrkräfte und Multiplikatoren – teilnahmen. 2021 wurde »Pol&IS« lediglich 26mal gespielt, wobei die Jugendoffiziere eine teildigitalisierte Version erarbeiteten.
Aufgrund ausgelasteter Jugendoffiziere und immer enger werdender Lehrpläne gibt es seit kurzem mit dem »Konfliktplanspiel« (KPS) eine abgespeckte »Pol&IS«-Version, die auch an einem Schultag durchgeführt werden kann. Statt die ganze Welt wird hier lediglich der Syrien-Krieg behandelt. Auch mit KPS können (sicherheits-)politische Fragen auf »attraktive« Weise an junge Menschen herangetragen werden. Aus pädagogischer Sicht sind die Planspiele durchaus interessant, doch der militärische Fokus und die Bundeswehr als Anbieterin sind kritisch zu beurteilen. Im Gegensatz zu den Landeszentralen oder der Bundeszentrale für politische Bildung ist die Armee aber mit genügend Geld ausgestattet, um solch umfangreiche Planspiele anbieten zu können.
Karriereberater
Die zweite Einheit der Armee, die Schulen besucht, sind die sogenannten Karriereberater. Sie halten vor Schülern Vorträge über verschiedene Soldatenlaufbahnen oder stehen bei Jobmessen für Gespräche bereit. Die Bundeswehr beschäftigt über die Republik verstreut etwa 100 Karriereberatungsoffiziere und 260 Karriereberatungsfeldwebel. Ebenso wie die Jugendoffiziere hatten auch die Karriereberater der Armee aufgrund der Coronamaßnahmen Probleme: »Im Bereich der Personalwerbung und Karriereberatung werden pandemiebedingt derzeit personalwerbliche Aktivitäten wo immer möglich und sinnvoll auf virtuelle Plattformen verlagert, um damit die Aufmerksamkeit der anzusprechenden Zielgruppen auf die Karriereangebote der Bundeswehr zu lenken«, informierte die Bundesregierung 2021 in ihrer Antwort auf eine kleine Bundestagsanfrage. Es gab – und gibt noch immer – Onlineevents der Karriereberater. Die anfangs aufgezeigten Rekrutierungszahlen zeigen aber, dass sich die Armee schwer damit tut, über das Internet junge Leute in erheblicher Größenordnung zu finden. Vor der Pandemie erreichten die Karriereberater in vielen Jahren bis zu 200.000 junge Menschen – manche davon noch sehr jung.
Minderjährige
Ein nicht nur von Friedensgruppen vorgebrachtes Argument lautet, dass die Armee mit ihren Schulauftritten gezielt Minderjährige anspreche und versuche sie zu werben: Die Bundeswehr ist eine der wenigen NATO-Armeen, in der man schon mit 17 Jahren an der Waffe ausgebildet wird. 2011 lag die Zahl der minderjährigen Soldaten bei 689. 2017 stieg sie – auch aufgrund doppelter Abschlussjahrgänge aufgrund des verkürzten »G 8«-Schulsystems – auf ihren bisherigen Höchststand von 2.128. In den Coronajahren lag sie bei rund 1.200 – im Jahr 2022 dann aber schon wieder auf einem hohen Stand von 1.773. Eigentlich nur als Ausnahme gedacht, um jungen Schulabgängern die Möglichkeit zu eröffnen, in die Armee einzutreten, machen die Minderjährigen mittlerweile rund zehn Prozent der jährlichen Rekruten aus. Die Praxis der gezielten Werbung und Rekrutierung Minderjähriger kollidiert mit den Kinderrechten, wie sie etwa in der von Deutschland unterzeichneten UN-Kinderrechtskonvention und deren Zusatzprotokollen festgeschrieben sind.
Die Bundesrepublik ist als Unterzeichnerin den Vereinten Nationen verpflichtet, regelmäßig über den Stand der Umsetzung der Kinderrechte Bericht zu erstatten. Allerdings dürfen sich auch Nichtregierungsorganisationen an den zuständigen UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes wenden und ihre Sicht auf den Umgang mit Kindern in Deutschland schildern. Dies hat das »Deutsche Bündnis Kindersoldaten«, zu dem u. a. die Organisationen »Terre des hommes«, die Kindernothilfe und »World Vision« gehören, etwa 2013 getan. Im »Schattenbericht im Rahmen des Staatenberichtsverfahrens zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes und zum Fakultativprotokoll betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten«, kurz »Schattenbericht Kindersoldaten 2013«, kritisiert Autor Hendrik Cremer vom Deutschen Institut für Menschenrechte Besuche der Bundeswehr an Schulen sowie die Rekrutierung von 17jährigen. Ein Jahr später kommentierte der UN-Ausschuss die Berichte aus Deutschland – und folgte dabei der Kritik und der Argumentation der Kinderrechtsorganisationen. Zwar begrüßte der Ausschuss die Bemühungen der Bundesrepublik, die Kinderrechte einzuhalten, zeigte sich aber auch besorgt über »die Möglichkeit für Jugendliche ab 17 Jahren, freiwillig die militärische Ausbildung bei den Streitkräften zu beginnen; darüber hinaus laufen sie Gefahr, sich strafbar zu machen, falls sie beschließen sollten, die Streitkräfte nach Ablauf der Probezeit zu verlassen«, wie auch über »verschiedene Werbekampagnen für die Streitkräfte, die insbesondere auf Kinder abzielen, sowie die Präsenz von Vertretern der Streitkräfte im schulischen Bereich, die mit Schülerinnen und Schülern sprechen und Aktivitäten organisieren«. 2016 schloss sich die Kinderkommission des Bundestags den UN-Forderungen an – umgesetzt wurden sie bislang aber nicht. Und so gab es 2019 einen weiteren »Schattenbericht Kindersoldaten« und Ende 2022 ein verschärftes Statement des zuständigen Ausschusses für die Rechte des Kindes: »Sexueller Missbrauch, sexuelle Belästigung und andere Formen der Gewalt gegen minderjährige Soldaten bei der Bundeswehr müssen dringend untersucht und die Täter zur Verantwortung gezogen werden. Das Rekrutierungsalter für die Bundeswehr muss auf 18 Jahre angehoben werden. Jegliche Werbung und Marketing bei Minderjährigen für den Militärdienst, insbesondere an Schulen, muss verboten werden.«
Der Druck auf die Bundesregierung ist hoch: 2019 riefen Friedensgruppen gemeinsam mit der Bildungsgewerkschaft GEW und Kinderrechtsorganisationen die Kampagne »Unter 18 nie! – Keine Minderjährigen in der Bundeswehr« (www.unter18nie.de) ins Leben. Neben Aktionen vor dem Bundestag gab es auch folgenreiche Treffen mit Politikern. Erstmals war im Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP 2021 zu lesen: »Ausbildung und Dienst an der Waffe bleiben volljährigen Soldatinnen und Soldaten vorbehalten.« Das damit formulierte Vorhaben wartet auf seine Umsetzung: Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurde das Thema von der Ampelkoalition erst einmal hintangestellt.
Falsches Bild
Militärwerbung hat mittlerweile ein kaum mehr zu überblickendes Ausmaß angenommen: Die Aktivitäten der Bundeswehr an Schulen werden ergänzt durch noch mehr Werbemaßnahmen im Internet – u. a. mit Youtube-Serien – und im öffentlichen Raum. Dabei steht die Werbung einer sachlichen Auseinandersetzung über Sicherheitspolitik und dem Dienst in der Armee im Weg: Die Armee verspricht jungen Menschen etwas, das sie in der Realität nicht halten kann. Die Armee zeichnet von sich ein Bild als Helferin im In- und Ausland. Dies steht den in Strategiepapieren wie dem »Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Rolle der Bundeswehr« des Verteidigungsministeriums oder den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« entgegen. Auch Soldaten berichten viel Negatives aus der Armee, was in der Werbung nicht vorkommt. Nach Ablauf einer sechsmonatigen Probezeit können die jungen Rekruten nicht einfach kündigen – die Bundeswehr ist kein »Arbeitgeber wie jeder andere«.
Michael Schulze von Glaßer ist politischer Geschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Beirat der »Informationsstelle Militarisierung« (IMI) und hat mehrere Bücher über die Nachwuchswerbung und Öffentlichkeitsarbeit der Bundeswehr veröffentlicht.
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