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Aus: Ausgabe vom 08.02.2023, Seite 1 / Titel
Erbebenkatastrophe

Machtpoker mit Opfern

Einseitige Hilfe nach Erdbeben in türkisch-syrischem Grenzgebiet. Bereits mehr als 5.000 Tote. Bis zu 23 Millionen Menschen betroffen
Von Wiebke Diehl
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Rettungskräfte des russischen Katastrophenschutzes beseitigen am Dienstag in der syrischen Stadt Dschabla Trümmer

Auf über 5.000 ist die Zahl der Todesopfer nach dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet gestiegen. Bis zu 23 Millionen Menschen sind nach Angaben der WHO direkt von der Katastrophe betroffen. »Achtmal höher als die ersten Bilanzen« sei oftmals bei Erdbeben am Ende die Zahl der Todesopfer, so WHO-Vertreterin Catherine Smallwood am Dienstag gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.

Nach Einschätzung von Geologen hat sich seit 900 Jahren kein so schweres Beben in der Region mehr ereignet. Teils mit bloßen Händen und bei eisigen Temperaturen suchten Rettungskräfte die ganze Nacht und den Tag hindurch nach Überlebenden. Auch für die nächsten Tage sind Kälte, Regen, Schnee und starke Winde vorausgesagt. In die drei am meisten betroffenen türkischen Provinzen Hatay, Kahramanmaras und Adiyaman dürfen nur noch Rettungsfahrzeuge und Hilfstransporte fahren. Dasselbe gilt für den Verkehr aus den Provinzen heraus. Auch am Dienstag kam es zu weiteren Nachbeben, insgesamt bebte die Erde über 280mal. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan rief für die nächsten drei Monate den Notstand für zehn türkische Provinzen aus.

Das ebenfalls erheblich betroffene Syrien ist nach Jahren des Krieges, drakonischer Sanktionen, US-Besatzung im Nordosten des Landes und der Plünderung von Ressourcen wie Weizen und Erdöl durch US-Truppen nur eingeschränkt in der Lage, auf die Katastrophe zu reagieren. Noch am 16. Januar hatte die US-Administration weitere Sanktionen verhängt. Sie betrafen den Gesundheitssektor. Am Dienstag rief der Leiter des ­Syrisch-Arabischen Roten Halbmonds, Khaled Hbubati, die US-Regierung und die EU eindringlich auf, die Sanktionen umgehend aufzuheben. So würden etwa für Rettungseinsätze Baumaschinen benötigt, zahlreiche Materialien und Ersatzteile stehen in Syrien wegen der seit 2011 anhaltenden Blockade des Landes, die die Versorgung der Bevölkerung unter anderem mit Lebensmitteln und Medikamenten schon seit Jahren beträchtlich einschränkt, nicht zur Verfügung. Schon im November hatte die UN-Sonderberichterstatterin für die negativen Auswirkungen einseitiger Sanktionen, Alena Duhan, nach einer Syrien-Reise die Beendigung der unilateralen »Zwangsmaßnahmen« angemahnt, weil diese die Menschenrechte in erheblichem Ausmaß verletzten und jegliche Anstrengungen für einen Wiederaufbau des Landes verhinderten.

Sowohl der Türkei als auch Syrien wurde internationale Hilfe zugesagt, die teilweise bereits angelaufen ist. Die westlichen Industrienationen, die seit über einem Jahrzehnt versuchen, die syrische Regierung zu stürzen, konzen­trieren sich dabei allerdings weitgehend auf die Türkei. Zusagen an Damaskus kamen indes vor allem aus Russland, China, dem Iran, dem Irak und anderen arabischen Staaten. Der Syrisch-Arabische Rote Halbmond kündigte an, auch die von der Opposition gehaltenen Gebiete mit Hilfsgütern zu versorgen.

Unterdessen nutzte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock die Gunst der Stunde, die Öffnung aller Grenzübergänge zwischen Türkei und Syrien – Seitenhieb gegen Moskau inklusive – zu fordern, denn: Die Erdbebenopfer in Syrien könnten »unter dem Assad-Regime auf keine Hilfe hoffen«. Seit Beginn des Syrien-Krieges weigern sich die Regierenden der westlichen Industrienationen, unter Einbeziehung der syrischen Regierung humanitäre Hilfe im Land zu leisten. Damaskus und Moskau lehnen Hilfen über die Grenze aber unter Verweis auf die syrische Souveränität ab.

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  • Leserbrief von Roland Winkler aus Aue ( 9. Februar 2023 um 13:13 Uhr)
    Für westliche »Wertepolitik« gibt es nichts, was nicht politisch nutzbar wäre. Einer US-Außenministerin war es den Tod von einer halben Million Kindern vor Jahren wert. Das muss gelegentlich angesichts der Tränen und des Herzzerreißens heutiger Politik in Erinnerung gerufen werden. Deutsche Außenpolitik hat mit Benutzung von Menschenleben für Politik ebenso kein Problem. Herzzerreißen vortäuschen, Tränen vergießen, politische Gegner diffamieren, aus jeder Katastrophe, jedem Krieg politisch Kapital schlagen, das zeichnet sich selbst so bezeichnende Menschenrechtler aus. Angesichts menschlicher Tragödien um das Erdbeben in der Türkei/Syrien war es manchen Kommentatoren scheinbar wichtigst, vermelden zu können, dass Syriens Assad Menschenopfer nicht interessieren, keine Hilfe geleistet wird, der Westen aber wohl daran gehindert werde – durch wen wohl, den Russen in den Grenzgebieten! Kein Wort zur US-Besatzung in Syrien, zu deren Sanktionen und ihren Folgen für die Bevölkerung seit Jahren.
    Wen wundert es? Wo und wann haben wir westliche Politiker dazu gehört, für wie viele Flüchtlingsopfer sie tagtäglich verantwortlich sind? Wo bleiben da Tränen, Herzzerreißen? Kein Wort dazu, wer in Syrien blockiert. Kein Wort über Russland, China, Iran, Irak u. a. arabische Staaten, die Syrien Hilfe leisten. Das noch so große menschliche Elend wird von westlichen »Wertepolitikern« politisch benutzt unter gespielter Betroffenheit. Nicht erst seit heute. Kein Gebiet, wo es nicht getan wird und wurde. Bis hin zum Sport, wo stets gefordert wurde, Politik herauszulassen. Was tun die »Wertepolitiker« mit Vorliebe seit eh und je? Alles für Frieden und Menschenrechte.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Hannes L. aus Braunschweig ( 8. Februar 2023 um 14:58 Uhr)
    Danke für den Artikel. Wer Panzer herstellt und im Krieg verteilt, pokert immer mit Opfern. Die Naturkatastrophe ersetzt hier den realen Krieg. Ich würde mir von dem Autor wünschen, dass er besser differenziert/aufschreibt, welche Großmacht (inkl. Russland) jetzt welche Interessen hat. Dass Frau Baerbock gegen Russland stänkert, war klar. Aber den Hintergrund habe ich aus dem Artikel nicht verstanden. Macht jetzt auch die Türkei gemeinsame Sache gegen Russland? Was macht die syrische Regierung? Ein Hintergrundartikel dazu halte ich für notwendig und informativ. Und nur die junge Welt kann das wirklich unabhängig berichten.

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