Tischvorlage Meister Isegrim
Von Oliver Rast
Jahrelang war Funkstille in Niedersachsen, nun sind die Kontrahenten wieder zusammengekommen zum »Dialogforum Weidetierhaltung und Wolf«. Landesumweltminister Christian Meyer und Landeslandwirtschaftsministerin Miriam Staudte (beide Bündnis 90/Die Grünen) hatten am vergangenen Donnerstag nach Hannover geladen. Schaf- und Ziegenhalter, Naturschutzverbände und Landwirteorganisationen folgten dem ministeriellen Ruf, ferner Umweltökonomen, Agrarwissenschaftler und Vertreter kommunaler Behörden. »Wir wissen, wie schwierig das Thema Wolf ist und dass es keine einfachen Lösungen gibt«, wurde Meyer am Freitag in einer Mitteilung zitiert. Stimmt, zumal, wenn Positionen unvereinbar scheinen.
Geht es nach Gina Briehl, sollten Diskussionen über Wolfsjagd und eine Änderung seines strengen Schutzstatus beim »Dialogforum« ausbleiben, sagte die Pressesprecherin vom Niedersächsischen Naturschutzbund Deutschland (Nabu) am Sonnabend zu jW. Im Fokus müsste hingegen ein fachgerechter Herdenschutz mittels Elektrofestzäunen samt Stahldraht als elektrischem Leiter stehen. Und dafür habe der Umweltverband ein »sehr erfolgreiches Projekt« etabliert. Das Nabu-Engagement sei durchaus unterstützenswert, so Jörn Ehlers, Vizepräsident des Bauernverbands »Landvolk Niedersachsen« und Sprecher des »Aktionsbündnisses aktives Wolfsmanagement«, gleichentags im jW-Gespräch. Aber: »Es ist blauäugig, nur auf Zaunbau zu setzen.« Tabuthemen dürfe es bei der Debatte nicht geben; auch weil infolge der Schutzmaßnahmen zurückliegender Jahrzehnte der Wolf »nicht mehr vom Aussterben bedroht ist«, befand Ehlers. Das bedeutet? Die Wolfspopulation müsse in Niedersachsen mittelfristig eingegrenzt werden, dürfe jedenfalls nicht noch weiter wachsen.
Wie viele Wolfsrudel gibt es in dem Bundesland? Die Landesjägerschaft (LJN) ist für das Wolfsmonitoring zuständig. Demnach dürften 44 Rudel, ein Wolfspaar und ein paar Einzeltiere – unter dem Strich rund 450 Wölfe – im Flächenland umherstreifen. Bevorzugt in Heidelandschaften und auf Truppenübungsplätzen. Aber selbst in Küstenregionen an der Nordsee. Ehlers: »Der Wolf überrascht uns immer wieder, wo er sich überall ansiedelt.« Und die Population wachse jährlich um 30 Prozent. Damit ist Niedersachsen nach Brandenburg die Region mit der zweithöchsten Wolfsdichte.
Landesweit seien seit Beginn der Aufzeichnung 2008 mehr als 2.100 Wolfsübergriffe auf Weidetiere dokumentiert, weiß Aaron Jaschok vom Bauernverband Nordostniedersachsen. »Am stärksten betroffen sind die Landkreise Cuxhaven, Lüneburg, Uelzen und Diepholz«, so Jaschok weiter gegenüber jW. Allein im vergangenen Jahr knapp 300 Fälle, ergänzte der Vorsitzende des Landesschafzuchtverbands Weser-Ems, Dieter Voigt, auf jW-Nachfrage. Konkret: circa 950 gerissene, verletzte oder vermisste Schafe und Ziegen, 90 Rinder, vor allem Jungrinder und Kälber, sowie 18 Pferde bzw. Ponys und 40 Tiere aus Wildgehegen, meist Damhirsche. Aber: Kein Grund für Schauermärchen über den »bösen, gefräßigen Wolf«.
Denn: Wölfe reißen ganz überwiegend Wildtiere. Zu 98 Prozent, so der »Anwalt der Wölfe« aus Buchholz (Aller), Christian Berge, jüngst in einem Post auf seiner Facebook-Seite. Dazu passt, was der Nabu-Landesvorsitzende Holger Buschmann sagt: Entscheidend bei der Diskussion sei nicht die Anzahl der Wölfe in einem Landstrich, etwa für eine Entnahme, sprich: Tötung, von »Problemwölfen«, sondern, »ob diese tatsächlich gelernt haben, empfohlene und zumutbare Herdenschutzmaßnahmen zu überwinden«. Eine Aussage, die Jaschok nervt. Tierhalter hätten nämlich keine Lust mehr, diffamiert zu werden und als Sachkundige vorgehalten zu bekommen: »Ihr habt nicht richtig gezäunt«. Und jetzt?
Fest steht: Fachvorträge sind längst referiert, Ansichten bekannt. Dennoch, der Start des Dialogforums sei ein wichtiger Schritt zu einem dauerhaften und transparenten Austausch, ließ Landwirtschaftsministerin Staudte auf jW-Nachfrage mitteilen. Arbeitsgruppen würden eingerichtet. Ehlers vom »Landvolk Niedersachsen« wirkt skeptisch – und fordert: »Handeln statt reden.« Wann geht es weiter? Unklar, ein Folgetermin fehlt bislang.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. ( 8. Februar 2023 um 09:41 Uhr)Circa 950 gerissene, verletzte oder vermisste Schafe und Ziegen, 90 Rinder, vor allem Jungrinder und Kälber, sowie 18 Pferde bzw. Ponys und 40 Tiere aus Wildgehegen, meist Damhirsche. Und das allein in Niedersachsen. Für den Autor »kein Grund für Schauermärchen über den ›bösen, gefräßigen Wolf‹«. Dass diese Barbarei vom Staat gefördert und geduldet wird, ist der eigentliche Skandal. Das Leid der gerissenen Tiere scheint diese angeblichen Tierschützer nicht zu interessieren. Fressen und gefressen werden. Das ist das Wolfsgesetz des Kapitalismus. Wie sehr viele Menschen dieses Gesetz verinnerlicht haben, zeigt die seltsame Liebe zum Wolf. (…)
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