EU im Sanktionswahn
Von Knut Mellenthin
Nun gibt es noch ein zweischneidiges Embargo mehr: Am Sonntag trat ein Verbot in Kraft, Erdölprodukte aus Russland in die EU-Länder einzuführen. Das gilt unter anderem für Benzin, Diesel, Flugzeugtreibstoff und Heizöl. Die schwerwiegendsten Auswirkungen auf den europäischen Märkten werden durch das Dieselembargo erwartet. Deshalb steht dieses Thema aktuell im Mittelpunkt der Stellungnahmen von Medien und Politikern. Hintergrund ist: Mit Diesel fahren die Lastkraftwagen, die Güter und Waren aller Art zu Verarbeitungsbetrieben, Lagern und Zehntausenden von Handelsstellen transportieren. In allem, was verkauft wird, steckt der Dieselpreis als wichtiger und konstanter Kostenfaktor. Wenn der Treibstoff teurer wird, heizt das die Inflation weiter an.
Angesichts der Beunruhigung in großen Teilen der Bevölkerung erklärte am Freitag Michael Kellner, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, dass die Tankstellenpreise voraussichtlich stabil bleiben würden. Schließlich hätten die Mineralölkonzerne acht Monate Zeit gehabt, sich auf das Embargo vorzubereiten, das von den EU-Gremien schon im Juni vergangenen Jahres angekündigt worden war. Das Argument klingt zwar mit Blick auf die kapitalistische Konzernpolitik etwas zu naiv, aber im wesentlichen hat es damit für die nächste Zeit wohl seine Richtigkeit: Seit Dezember haben die Großhändler Diesel in beispiellos großen Mengen aufgekauft. Als Folge sind alle Lager randvoll gefüllt. Außerdem hat Russland in den vergangenen Wochen Rekordmengen Diesel nach Marokko – und vermutlich auch in andere Länder – geliefert, die jetzt zum Weiterverkauf in die EU zur Verfügung stehen.
Aber diese relativ beruhigende Perspektive gilt nur für den überschaubaren nächsten Zeitraum. Grundsätzlich ist zu bedenken, dass die EU im vergangenen Jahr 40 Prozent ihrer Dieselimporte aus Russland bezogen hat. Die Menge, die jetzt schlagartig durch Einfuhren aus anderen Ländern ersetzt werden muss, bezifferte die New York Times am Donnerstag in einer faktenreichen Lageanalyse mit 700.000 Barrel pro Tag. Der Fernsehsender N-TV gab die Menge am Sonntag etwas geringer mit 600.000 Barrel pro Tag an, aber hielt dagegen, dass von den drei wichtigsten Alternativlieferanten USA, Saudi-Arabien und Indien aktuell zusammen nur etwa 200.000 Barrel Diesel pro Tag zusätzlich zu erwarten seien.
Für fossile Energieträger und deren Verarbeitungsprodukte weltweit gilt allgemein, dass nirgendwo schnell abrufbare Überschüsse vorhanden sind, auf die EU-Kunden, die unbedingt und um jeden Preis »Putin bestrafen« wollen, einfach nur zuzugreifen bräuchten. Im Nahen Osten zum Beispiel haben Kuwait, Saudi-Arabien und Oman begonnen, vor dem Hintergrund der berechenbaren Folgen der westlichen Embargostrategie gegen Russland ihre Raffineriekapazitäten gezielt zu erweitern. Aber das wird einige Monate in Anspruch nehmen, und spürbare erste Ergebnisse werden frühestens Ende des Jahres erwartet. Indien wird sich voraussichtlich zu einem führenden Raffineriestandort entwickeln – auf der Basis von massenhaft importiertem russischem Erdöl. Aber die Verlängerung der Transportwege und damit auch die Verknappung und Verteuerung von Schiffsraum schlagen auf die Preise durch. Für Beruhigung gibt es also keine Gründe.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinz-Joachim R. aus Berlin ( 6. Februar 2023 um 19:53 Uhr)Neben dem im Artikel und in den Online-Leserbriefen genannten Umwegs- und Verteuerungswahnsinn bemerke ich die ach so demagogisch, grün-christlich verschimmelte Naturschutzpolitik, die sicher ein Beitrag zur Reinigung der Weltmeere sein soll, wenn Tanker sie zusätzlich mit Diesel »säubern«. Aber das entspricht genau der westimperialistischen Lügen- und Naturverschmutzungspolitik. Hier, anstatt spektakulär unsinnig sich an die einzelnen machtlosen Bürger mit kulturlos, wie kindlich irrsinnigen Handlungen zu wenden, sollte sich die »Letzte Generation« endlich politisch sowohl vor dem Reichstag, dem Élysée wie vor dem Berlaymont-Gebäude in Brüssel positionieren und Klartext reden, insofern da ein Horizont entwicklungsfähig für vorhanden sein sollte.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart ( 6. Februar 2023 um 11:28 Uhr)Die EU und die offenen Märkte – drei Bemerkungen zu Ölembargo: Erstens, Europa fährt weiterhin mit russischem Öl. Es ist Fakt, dass die Europäer in Wirklichkeit russisches Öl mit teurem Extrazuschlag kaufen, das über Indien und anderen Ländern umgeleitet wird. Während Europa, die USA, Kanada, das Vereinigte Königreich und Australien keine russischen Ölprodukte mehr kauften, setzte der Rest der Welt seine Einkäufe in Moskau auffällig wachsend fort. Indien kaufte so viel mehr russisches Rohöl, dass es hinter China zum zweitgrößten Kunden Moskaus wurde. Die längeren Transportwege, die sich aus der Einrichtung der neuen Routen ergeben, führen zu längeren Lieferzeiten, was letztendlich zu Spannungen auf dem Markt führen. Derzeit stehen genügend Frachtschiffe zur Verfügung, um diese für uns sehr teure »Umweggeschäfte« zu befriedigen. Zusätzlich erweist sich die CO2-Bilanz des Vorhabens als katastrophal, da die Lieferungen über Pipelines durch lange Seewege ersetzt werden. Zweitens, Diesel ist nach wie vor der am häufigsten verwendete Kraftstoff für Autofahrer und erst recht für Transportunternehmen. Der Grund für den Dieselverbrauch liegt in der Struktur des installierten Fahrzeugs- und Schiffsbestands. Durch den Preisauftrieb verliert Deutschland seine bisherigen Wettbewerbsvorteile und die Zusatzkosten treiben die Preise hoch. Drittens, die Zahlen zeichnen ein scheinbar klares Bild. Russland scheint unter den Sanktionen, die der Westen wegen der Invasion in der Ukraine verhängt hat, nicht sehr gelitten zu haben. Einem Bericht des Wall Street Journal vom 30. Januar zufolge ist der Handel zwischen Russland und China zwischen März und September 2022 im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2021 um rund 27 Milliarden gestiegen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover ( 5. Februar 2023 um 22:49 Uhr)Die RAND-Corporation hatte 2019 mit ihrer Studie »Overextending and Unbalancing Russia« als ein Ideengeber für die westliche Eskalationspolitik im Ukraine-Konflikt fungiert. Die neueste RAND-Studie »Avoiding a Long War« könnte indes den Rückzug der USA aus dem Ukraine-Krieg einläuten. »The increase in energy prices alone is likely to lead to nearly 150,000 excess deaths […] in Europe in the winter of 2022–2023«, heißt es dort. 150.000 Tote durch die EU-Sanktionspolitik. Wenn es darum geht, Russland zu ruinieren, sind offenbar keine Opfer zu groß. Die Amerikaner haben in der Ukraine durchaus wichtige Kriegsziele längst erreicht, insbesondere die Abschaltung von Nord Stream 2, darüber hinaus eine Abkopplung Deutschlands von Russland und die Unterwerfung Deutschlands unter die US-Hegemonie, den gewinnbringenden Verkauf des US-Frackinggases nach Europa, den mit der Schwächung Europas verbundenen Kapitalfluss Richtung USA und last not least natürlich die Schwächung Russlands. Die RAND-Studie bezeichnet den Nachteil eines zu langen US-Engagements in der Ukraine denn auch ziemlich klar: »The United States would be less able to focus on other global priorities«. Heißt natürlich: Die USA sollten sich jetzt lieber auf den Konflikt mit China konzentrieren. Das scheint ernst genommen zu werden, wie die maßlos übertriebene Dramaturgie um die Lappalie des Wetterballons aus China zeigt. Die Bevölkerung wird schon mal auf Krieg gegen China umprogrammiert. So schön die RAND-Empfehlung klingt, den Ukraine-Krieg zu beenden – schon die Stellvertreter-Krieger in syrisch Kurdistan und Afghanistan hatte man unvermittelt fallen lassen, so sehr sollte Europa sich auf seine eigenen Interessen besinnen und sich der amerikanischen Eskalationspolitik endlich verweigern, also nicht nur den Krieg in der Ukraine beenden sondern auch keinen neuen mit China anfangen. Es ist beschämend, wie unbedacht das Blut hunderttausender Menschen in Europa für US-amerikanische Hegemonieinteressen vergossen wird.
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