junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Donnerstag, 23. März 2023, Nr. 70
Die junge Welt wird von 2701 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 04.02.2023, Seite 1 / Titel
Ukraine-Krieg

Keine Eile mit Kiew

EU-Spitze in Ukraine taub für dortige Forderungen, innerhalb von zwei Jahren Mitglied zu werden. Schauverhaftungen wegen Korruption
Von Reinhard Lauterbach
1.jpg
Gelb und Blau: Diese beiden Farben haben die EU und die Ukraine gemeinsam (Strasbourg, 17.1.2023)

Ohne größere Aufmerksamkeit der ukrainischen Öffentlichkeit hat in Kiew ein sogenannter EU-Ukraine-Gipfel stattgefunden. Aus diesem Anlass waren Kommissionschefin Ursula von der Leyen, Ratspräsident Charles Michel und der Außenbeauftragte Josep Borrell angereist. In der Sache gab es offenbar keine neuen Entwicklungen. Angesichts ukrainischen Drängens auf einen Beitritt innerhalb von zwei Jahren reagierte die Kommission mit routinemäßigen Erklärungen: Der Beitritt werde vollzogen, wenn die Ukraine alle Bedingungen dafür erfüllt habe, hieß es in dem von der US-Zeitung Politico vorab im Internet veröffentlichten Entwurf des Abschlussdokuments.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hatte zuvor versucht, in seiner allabendlichen Videoansprache auf eine beschleunigte Aufnahme der Ukraine in die EU zu drängen. Er glaube, sein Land habe es verdient, dass die Beitrittsverhandlungen schon in diesem Jahr aufgenommen würden, so Selenskij. Ein Fortschritt bei der EU-Integration würde auch die Bereitschaft der ukrainischen Bevölkerung erhöhen, weiter die Härten des Krieges auf sich zu nehmen, fügte er in einer seltenen Anspielung auf in der Ukraine offenbar verbreitete Kriegsmüdigkeit hinzu. Selbst der Grünen-Politiker Anton Hofreiter mochte sich diesem ambitionierten Zeitplan nicht anschließen. Laut »Tagesschau« merkte er an, es wäre optimal, wenn die Ukraine in fünf bis sechs Jahren der EU beitreten könnte. Es sei »bei weitem noch nicht alles gut im Staate Ukraine«, zitiert ihn das Webportal der ARD-Nachrichtensendung.

Offenbar als Morgengabe für den EU-Gipfel haben die ukrainischen Behörden seit Anfang der Woche eine Reihe spektakulärer Verhaftungen und Hausdurchsuchungen wegen des Verdachts auf diverse Wirtschaftsstraftaten vorgenommen. Razzien gab es unter anderem beim Oligarchen Igor Kolomoiskij und dem früheren Innenminister Arsen Awakow. Letzterer gab an, die Durchsuchung habe im Zusammenhang mit dem kürzlichen Absturz eines in Awakows Amtszeit gekauften französischen Hubschraubers mit seinem Amtsnachfolger an Bord gestanden. In einem Kellergebäude eines Öllagers bei Uschgorod an der Grenze zur Slowakei und Ungarn wurde nach Darstellung des ukrainischen Geheimdiensts SBU ein Lagerraum für die »schwarze Buchhaltung« der früher Kolomoiskij gehörenden Ölkonzerne Ukrnafta und Ukrtatnafta entdeckt. Sie waren nach Kriegsbeginn nationalisiert worden. Aus den Unterlagen soll hervorgehen, dass beide Unternehmen Verbrauchssteuern im Wert von umgerechnet einer Milliarde Euro hinterzogen hätten. Der Schaucharakter der Kampagne wird insbesondere daran sichtbar, dass jetzt auch Bilder von Verhaftungen aus dem vergangenen Sommer an die ukrainischen Medien gelangten. So wurde das Haus des einstigen Vizeverteidigungsministers Roman Martinjuk gezeigt, wo in einem Sofa Bargeld im Wert von umgerechnet einer Million Euro eingenäht gefunden worden sei. Der Mann war für die Beschaffung von Schutzausrüstung für die Kiewer Armee verantwortlich.

Unterdessen hat in Berlin Regierungssprecher Steffen Hebestreit das Gedenken in Russland an die Schlacht von Stalingrad vor 80 Jahren zum Anlass genommen, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin »abstruse historische Vergleiche« vorzuwerfen. Wenn Putin davon spreche, dass heute wieder deutsche Panzer Russland bedrohten wie im Zweiten Weltkrieg, betreibe er Schuldumkehr. Putin hat den Krieg in der Ukraine wiederholt als Neuauflage des Kampfes gegen den Faschismus dargestellt.

Drei Wochen kostenlos lesen

Wir sollten uns mal kennenlernen: Die Tageszeitung junge Welt berichtet anders als die meisten Medien. Sie bezieht eine aufklärerische Position ohne Besserwisserei und wirkt durch Argumente, Qualität, Unterhaltsamkeit und Biss.

Testen Sie jetzt die junge Welt drei Wochen lang (im europäischen Ausland zwei Wochen) kostenlos. Danach ist Schluss, das Probeabo endet automatisch.

  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart ( 5. Februar 2023 um 21:26 Uhr)
    Inzwischen kann sich Ursula in Kiew wie zu Hause fühlen. Sie war schon Verteidigungsministerin und sie weiß, was es bedeutet, ein potenzielles Ziel zu sein. Präsident Selenskij erwartet sie am Fuße der Treppe des bestgeschützten Gebäudes der ukrainischen Hauptstadt. Er soll der einzige sein, der über Batterien von Patriot-Raketen verfügt. Der Präsident in einem armeegrünen Sweatshirt streicht mit der Hand über die senffarbene Jacke der Präsidentin der Europäischen Kommission. »Ist dir nicht kalt?« »Keine Sorge.« Schon deshalb, weil es mehr zu befürchten gibt. Die Sirenen zur Warnung vor Luftangriffen ertönten bereits zur Frühstückszeit und werden im Laufe des Tages noch zweimal ertönen. Von der Leyen bekräftigte ihrerseits, dass der Beitritt ein Prozess ist, der auf Verdiensten beruht. Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, versuchte ebenfalls zu beruhigen, indem er die »enormen Anstrengungen der Ukraine, Fortschritte zu machen«, hervorhob. Es gibt Ziele, die erreicht werden müssen, aber es gibt keinen Fahrplan. Die Selenskij-Regierung will in die EU so schnell wie möglich, jedoch immer fraglicher und unklarer wird, mit was für einer Ukraine. Aus den Europäischen Hauptstädten kommen andere Stimmen, und so wird auch davor gewarnt, dass die Kommission Hoffnungen schürt, die am Ende nur enttäuscht würden. Die EU-Vertreter in Kiew müssen aufpassen, was sie versprechen.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude, Russland ( 5. Februar 2023 um 04:41 Uhr)
    Der Faschismus erscheint erneut im demokratischen Gewand. Hitler kam legal zur Macht und erhielt per Parlamentsbeschluss sein Ermächtigungsgesetz. Heute übernehmen diese Rolle in gesteigerter Form die USA. Weder Deutschland noch Japan strebten im Zweiten Weltkrieg die Weltherrschaft an (welche für die USA jetzt selbstverständlich ist) und waren »sogar« bereit, mit den Briten zu teilen, verglichen mit heute bescheiden. Die USA teilen mit niemandem, der sich ihnen nicht unterordnet. Ansonsten gibt es Krieg. Rechnen wir die verstümmelten Opfer der nächsten zehn Generationen wegen Orange und Uranmunition hinzu, übertreffen die Opfer der US-Kriege die der Nazis. Hitler fing »klein« an: »Kauft nicht bei Juden« und ließ deren Geschäfte zertrümmern. Die USA fangen da schon größer an »Kauft nicht bei Russen«, erpressen die halbe Welt, dem zu folgen und zertrümmern Milliarden – teure Gasleitungen. Fällt denn keinem auf, dass es die gleichen Mittel sind? Die Hauptunterstützer dieser prefaschistischen Entwicklung sind die Grünen. Dazu äußerte sich Peter Hacks bereits 1992 genial prophetisch: »… dafür braucht man zunächst eine Splittergruppe, die sich entschließt, dieses Geschäft zu übernehmen. Ich nehme an, in Deutschland werden es die Grünen und dieses sogenannte Bündnis 90 sein. Also, es werden nicht die Nazis von Herrn Frey und es werden nicht die Nazis von Herrn Schönhuber sein, sondern es werden die sein. Also die sind der Schoß, aber der Schoß ist nicht die Sache. Und die Sache muss irgendwo aus einer Keimzelle keimen, das ist ein Gesetz: Wer einmal geschlagen ist, kann nicht unter demselben Namen wiederkommen. Der braucht eine neue Maske. Deswegen glaube ich auch, dass eben in Deutschland nicht die beiden Nazi-Parteien die Keimzelle werden, sondern jemand, auf den man nicht kommt. Und diese weinenden Kleinbürgerorganisationen, die gegen alles sind, und überhaupt nicht wissen, wofür sie sind, die eignen sich. Es ist ein bisschen Prophezeiung drin. Wir werden es sehen.« (Peter Hacks, Marxistische Hinsichten, Berlin 2018)
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. ( 6. Februar 2023 um 13:39 Uhr)
      »Weder Deutschland noch Japan strebten im Zweiten Weltkrieg die Weltherrschaft an (welche für die USA jetzt selbstverständlich ist) und waren ›sogar‹ bereit, mit den Briten zu teilen …« Großer Beifall von rechts. Ist das etwa der wahre Buttkewitz, der da die Verbrechen des Hitlerfaschismus relativiert? Man mag es nicht glauben. Wo bleibt der Scharfsinn, den Sie in vielen Beiträgen gezeigt haben? Eklatante Defizite in Geschichte zeigt allerdings dieser Satz: »Hitler kam legal zur Macht und erhielt per Parlamentsbeschluss sein Ermächtigungsgesetz.« Die Abstimmung zum Ermächtigungsgesetz fand unter den Augen bewaffneter und uniformierter SA- und SS-Angehöriger statt. Die KPD-Abgeordneten waren entweder auf der Flucht oder im Gefängnis. Soviel zur Legalität.
      • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude, Russland ( 6. Februar 2023 um 16:00 Uhr)
        Ich habe nicht geschrieben, dass die Abstimmung zum Ermächtigungsgesetz legal war, sondern, dass Hitler legal zur Macht kam (am 30.01.1933). Wo bleibt ihr Scharfsinn, diesen Unterschied nicht zu bemerken? Ein Parlamentsbeschluss bei der Abstimmung zum Ermächtigungsgesetz bleibt eine traurige Tatsache. Es hätten schließlich auch andere Parteien als die SPD dagegen stimmen können. Die kollaborierten aber mit Hitler, und zwar nicht wegen der SA oder SS im Haus, sondern bereits bei der Regierungsbildung durch Hindenburg, also noch vor (!) Hitlers Machtantritt. Das müsste man eigentlich wissen, wenn man keine Defizite in Geschichte hat. Der umfassende Machtanspruch der heutigen USA, sich die gesamte Welt unterzuordnen, ist nun einmal noch größer, als er es selbst bei den bereits extremen imperialistischen Eroberungsgelüsten Deutschlands und Japans im Zweiten Weltkrieg war. Mit der Erwähnung dieser Tatsache sind die Verbrechen des Hitlerfaschismus nicht verkleinert oder entschuldigt, sondern die der USA ins rechte Licht gerückt. Erst durch diesen Vergleich wird klar, welche Dimensionen der Imperialismus in Fortsetzung des Zweiten Weltkrieges inzwischen angenommen hat.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gabriel T. aus Berlin ( 4. Februar 2023 um 10:00 Uhr)
    Na, irgendwie will das nicht recht zur Propaganda passen, in der die Ukraine die westlichen Werte verteidigt. Oder verteidigt sie da Werte, die sie gar nicht hat. Ein offenkundiges propagandistisches Dilemma, was aber, oh Wunder, so recht keinem auffallen will. Oder vielleicht noch einfacher: Der Verrat ist beliebt, der Verräter allerdings nicht.
  • Leserbrief von Ronald Prang aus Berlin ( 3. Februar 2023 um 21:29 Uhr)
    Während des Treffens der EU-Spitze mit der, in einem Stellvertreterkrieg stehenden, ukrainischen Regierung, traf sich der deutsche Bundeskanzler mit einer, sich offen als Neofaschistin bekennenden, italienischen Regierungschefin. So scheint nun jeder wieder »salonfähig«, wenn er nur gegen den »bösen Russen« ist. Der Rechtsruck in Europa ist längst nicht mehr zu leugnen. Zeitgleich, zur Feier des Sieges über die deutschen Faschisten in Stalingrad, rollen wieder deutsche Panzer durch die Ukraine. Die deutsche Außenministerin spricht bereits vom »Krieg der EU gegen Russland« und die deutschen Medien »wundern sich«, dass Putin es propagandistisch ausnutzt. Keiner spricht mehr darüber, wie dieser Krieg beendet werden könnte. Warum auch, die Profite der Rüstungsindustrie steigen und es geht nur noch darum, wie man die Russen in die Knie zwingt. Die Stimmung innerhalb der europäischen Bevölkerung kippt immer mehr nach rechts, was vor 90 Jahren in Deutschland geschah, scheint sich in einigen europäischen Staaten zu wiederholen.

Ähnliche:

  • Auf Kriegskurs. Soldaten der 41. Panzergrenadierbrigade der Bund...
    06.10.2022

    »Permanente Auseinandersetzung«

    Russland ruinieren, China einkreisen, die eigene Bevölkerung ins Elend stürzen. Über die Kriegsziele des Wertewestens und dessen mangelnden Realismus
  • Demonstranten auf dem Maidan in Kiew (8.12.2013)
    30.05.2022

    Der Krieg der Stellvertreter

    Weiter schauen als nur in Putins Kopf: In einer Doppelnummer analysiert die New Left Review den Ukraine-Konflikt
  • Nutzt die Bühne: Der ukrainische Außenminister Kuleba am Freitag...
    14.05.2022

    Diplomatie und Waffen

    Scholz telefoniert mit Putin. Ukraine fordert bei G7-Treffen Kriegsgerät

Drei Wochen lang gratis gedruckte junge Welt lesen: Das Probeabo endet automatisch, muss nicht abbestellt werden.