Nachschlag: Rattenkrieg in Stalingrad

Würde das ZDF die Geschichte schreiben, dann hätten die deutschen Landser in Stalingrad alles richtig gemacht. Ohne den militärisch unfähigen Hitler und den hinterlistig kämpfenden Russen wäre die Wehrmacht siegreich gewesen. Zum 80. Jahrestag der Niederlage erhält der Zuschauer eine historische Nachhilfestunde anhand des Briefwechsels zwischen dem Soldaten Martius und seiner Mutter. Zu Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion läuft alles nach Plan. Doch in Stalingrad »ist’s beschissen. Der Russe ist fertig, wir aber auch. Er schießt unverschämt.« Zur Untermalung des unritterlichen Verhaltens der sowjetischen Streitkräfte wird ein Historiker herangezogen: »Da gibt es diesen Rattenkrieg und dieses Entsetzen, dass die Sowjets auch aus den Gullys herauskamen.« Doch auch das kann Martius nicht an seiner Pflichterfüllung hindern: »Liebe Mami, heute war der eisenhaltigste Tag. Kein Meter wurde aufgegeben.« Wenige Tage später erhält die Mutter ihren Antwortbrief zurück: »Unzustellbar«. (bk)
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Leserbrief von Meas Tintenwolf aus Berlin ( 3. Februar 2023 um 09:52 Uhr)Nachdem ich die Kurzrezension gelesen hatte, habe ich mir die Doku in der Erwartung angeschaut, dass typische antirussische/antisowjetische Klischees bedient werden. Natürlich wird im Rahmen der historischen Aufbereitung auch aus der Feldpost von Soldaten der Wehrmacht zitiert (die, wie sollte es anders sein, eine hassverzerrte Sicht haben), aber genauso auch aus Briefen von Rotarmisten. Als Historiker muss ich klarstellen, dass Briefe eine wichtige Quellengattung sind. Wie jede Quelle müssen sie kontextualisiert und einer vernünftigen Kritik unterzogen werden. Letzteres ist im Bereich des Histotainment – also der populärwissenschaftlichen Aufbereitung von Geschichte für Fernsehdokus etc. – nicht wirklich ausreichend stemmbar. Das wird in dieser Doku aber dadurch wettgemacht, dass aufgezeigt wird, wie der Krieg nach dessen Ende in der DDR, im NS-Nachfolgestaat BRD als auch in der Sowjetunion rezipiert wurde. In der DDR wurde demnach ganz im Sinne des Antifaschismus gewürdigt, wenn sich ehemalige deutsche Soldaten in Kriegsgefangenschaft vom Faschismus ab- und dem Sozialismus zugewandt hatten. Dagegen wurden die Soldaten von der BRD für ihren idiotischen Durchhaltewillen gegen den »russischen Untermenschen« gefeiert, die NS-Propaganda wurde im Sinne des Kalten Krieges sogar durch gefälschte Frontbriefe befeuert. In der Sowjetunion – so die Historikerin Katja Makhotina zum Schluss der Doku – wurden Feindbilder nicht von nationalen Zugehörigkeiten, sondern von der Klassenfrage bestimmt. Das ist ein Zugeständnis, welches ich den ansonsten so kriegsgeilen deutschen Staats- und Konzernmedien gar nicht mehr zugetraut hätte. Auch am Grundtenor der Doku, dass Krieg an sich halt scheiße ist, lässt sich meinem Erachten nach nichts aussetzen. Die Doku dann dadurch schlecht darzustellen, lediglich die zitierte deutsche Feldpost verkürzt, als deren Kernaussage herauszunehmen, ist schlechte Arbeit, die lediglich diskreditiert, was am Ende sogar ein wirklich gutes Fazit zieht.
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