Was zeigen die Bilder?
Von Sabine Kebir
»Kriegsbilder brauchen wir, schneiden Sie, schneiden Sie, schneiden Sie aus!« schrieb Bertolt Brechts Mitarbeiterin Ruth Berlau aus dem finnischen Exil an einen in Dänemark verbliebenen Freund. Ganz besonders gefragt sei »das letzte Ferkel im Profil fotografiert«. Damit war Hitler gemeint, dessen theatralischer Habitus Brecht wegen seines in Arbeit befindlichen Stücks »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« interessierte. Die faschistischen »Akteure« verstünden es, mit der »Kunst des epischen Theaters, Vorkommnissen banaler Art den historischen Anstrich zu geben«. Die damals entstehende Sammlung bildete auch den Grundstock für die »Kriegsfibel«. Konzentriert an ihr gearbeitet wurde jedoch erst 1944 in den USA, wo Ruth Berlau Fotokurse besuchte und verschiedene Fachleute in Anspruch nahm, um das Abfotografieren von Manuskripten und Fotos zu lernen. Im Fotolabor der Venice High School von Los Angeles probierte sie sich zusammen mit Brecht in Montagen von Kriegsfotos mit dazu gedichteten Vierzeilern. Da der Physiker Hans Reichenbach, der Kenntnisse über die Atombombe besaß, zu Berlaus Beratern gehörte, wurde die »microfilm copy work« misstrauisch vom FBI beobachtet. Diente sie womöglich der Spionage? Eine von Berlau angestellte Hilfskraft zeigte sich gegenüber dem FBI irritiert wegen der zahlreichen Hitler- und Kriegsfotos.
Da die »Kriegsfibel« auch Fotos und Verse von geschlagenen und leidenden Deutschen enthält, wurde sie von DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl persönlich als »pazifistisch« verboten. Sie konnte erst 1955 erscheinen. Eine weitere, bis heute wichtige Bedeutung lag darin, dass sie den Zweiten Weltkrieg nicht nur in seiner europäischen Dimension, sondern als wirklich globales Ereignis zeigt. Sie verdeutlicht, dass der von Hitlerdeutschland angezettelte Krieg Eskalationen im asiatischen und pazifischen Raum nach sich zog und auch dort Millionen Leben völlig unbeteiligter Menschen forderte. Weil sie auch die asiatische Dimension des Krieges sichtbar macht, erlebte die »Kriegsfibel« während des Vietnamkriegs erneut große Aufmerksamkeit.
Da gegenwärtig die Gefahr eines dritten Weltkriegs eminent ist, stellen die vom 6. bis 10. Februar stattfindenden diesjährigen Brecht-Tage im Literaturforum des Berliner Brecht-Hauses die Aktualität der »Kriegsfibel« erneut zur Diskussion. Sie stehen unter dem Motto »Und ihr aber lernet, wie man sieht statt stiert«. Indem Brecht durch seine Vierzeiler den Aufnahmen, die oft zur Kriegspropaganda gedient hatten, eine radikal neue Bedeutung gibt, verweist er das Publikum auf die Notwendigkeit, sich bei der Betrachtung von Bildern nicht dem ersten emotionalen Eindruck zu ergeben, sondern nach Hintergründen und möglichen anderen Perspektiven zu suchen, als sie die Bilderlegenden vorgeben.
Die Fähigkeit, Fotos oder die heute ebenso bedeutsamen bewegten Bilder misstrauisch zu betrachten und zu hinterfragen, ist nach wie vor von höchster Wichtigkeit. Denn anders als zu Zeiten des Vietnamkriegs, als auch große westliche Nachrichtenagenturen emotional berührende Bilder der terrorisierten Vietnamesen veröffentlichten, ist heute die dominante Kriegsberichterstattung der Länder, die sich demokratisch nennen, weitgehend von Einseitigkeit geprägt. So sah man kaum eindrückliche Bilder von Todesopfern und Zerstörungen im Donbass seit 2014.
Die Schauspielerin Margarita Breitkreiz eröffnet die von ND-Theaterredakteur Erik Zielke konzipierten und zum Teil auch moderierten Brecht-Tage 2023 am Montag abend mit einer Lesung von Brechts Versen, begleitet von Projektionen von Bildern aus der »Kriegsfibel«.
Johannes Gall führt in Hanns Eislers kaum bekanntes Kantatenfragment »Bilder aus der ›Kriegsfibel‹« ein (8. Februar) und bringt eine Aufnahme davon zu Gehör. Das Ensemble Lesabéndio bietet anschließend die »Verse vom unbekannten Soldaten« von Ossip Mandelstam dar.
Mit ihrem »Atlas der Angst« präsentieren der Fotograf Armin Smailovic und Autor Dirk Gieselmann ein von der »Kriegsfibel« inspiriertes Werk (6. Februar). Johannes Weilandt zeigt »Geschossaufnahmen« aus dem Zweiten Golfkrieg und den Jugoslawien-Kriegen in grafischen Arbeiten. Mit Zielke spricht er am Dienstag nachmittag über die bildnerische Erfassbarkeit von Krieg und das wichtige Thema der Gewalt in der Abstraktion. Ulrike Haß legt am Abend dar, dass die antike Tragödie »Die Troerinnen« von Euripides erstmals den »Westen« als Gegenpol zum »Osten« konzipierte, Sebastian Blasius verfolgt das Motiv in der Theatergeschichte weiter. Alexander Kluge wird am 9. Februar anhand filmischer Beispiele über die Montagetechnik als Mittel sprechen, das Wesen des Kriegs erkennbar zu machen.
Zu Brechts 125. Geburtstag am 10. Februar wird ein Ganztagesprogramm geboten, das traditionell mit einem Gang zu Brechts Grab beginnt. Danach folgen Vorträge und Diskussionen, die den »Krieg madig machen« (Christoph Hesse), Kriege und Kriegsbilder zu Brechts Zeiten und heute (Sabine Kebir) analysieren und einen Bogen Breughel – Tombock – Brecht spannen (Gerd Koch). Anna Melnikowa und Luise Meier ziehen künstlerisch und intellektuell Bilanz unter den Motti »Krieg | Körper | Kunst – Kalt Kucken (?)« und »Wie man sieht statt stiert«.
Drei Wochen kostenlos lesen
Wir sollten uns mal kennenlernen: Die Tageszeitung junge Welt berichtet anders als die meisten Medien. Sie bezieht eine aufklärerische Position ohne Besserwisserei und wirkt durch Argumente, Qualität, Unterhaltsamkeit und Biss.
Testen Sie jetzt die junge Welt drei Wochen lang (im europäischen Ausland zwei Wochen) kostenlos. Danach ist Schluss, das Probeabo endet automatisch.
Regio:
Mehr aus: Feuilleton
-
Die Unmittelbarkeit der Eleganz
vom 03.02.2023 -
Längst aus Plastik: Der Strick
vom 03.02.2023 -
Bin ich Revolutionär oder Buchhalter?
vom 03.02.2023 -
Kuba gedenkt José Martís
vom 03.02.2023 -
Nachschlag: Rattenkrieg in Stalingrad
vom 03.02.2023 -
Vorschlag
vom 03.02.2023