Die Unmittelbarkeit der Eleganz
Von Alexander Kasbohm
Der japanische Komponist Ryuichi Sakamoto ist der Inbegriff von stilsicherer Eleganz, Understatement und Zurückhaltung. In seinem Auftreten, seiner Kleidung und seiner Musik. Vor über 40 Jahren war er mit dem Yellow Magic Orchestra (kurz YMO) unerwartet weltweit erfolgreich. Sein ursprünglich für einen Werbespot der Uhrenfirma Seiko komponierte Stück »Behind the Mask« wurde – mindestens so unerwartet – selbst von Greuelgestalten wie Michael Jackson und Eric Clapton gecovert. Nach der Auflösung der Band war Sakamoto der weltweit erfolgreichste der drei Musiker. 1983 komponierte er den Soundtrack zu Nagisa Oshimas Film »Furyo – Merry Christmas, Mr. Lawrence«, in der Hauptrolle des Films David Bowie, damals auf dem Höhepunkt seines Erfolges.
Für den Soundtrack zu »Der letzte Kaiser« gewann Sakamoto 1987 den Oscar. Auch »Der Himmel über der Wüste« (1990), »Little Buddha« (1993) und »The Revenant« (2015) wären ohne seine eleganten Kompositionen vermutlich nur die Hälfte wert. Parallel dazu hatte er eine Karriere als Popmusiker, und beide Karrieren, die des auf der Höhe der Zeit musizierenden Popstars und des neoklassischen Instrumentalkomponisten, hatten gefälligere Seiten und experimentellere. Kurz gesagt, reicht sein Schaffen für mehrere Leben.
Im Jahr 2014 wurde bei Ryuichi Sakamoto Kehlkopfkrebs diagnostiziert. Er nahm sich eine Auszeit, besiegte den Krebs und begann mit noch mehr Energie – manchmal macht es auch den Eindruck: mit einem tieferen Bewusstsein der Endlichkeit – sein Schaffen fortzusetzen. Diese Phase ist in der beeindruckenden Dokumentation »Coda« (2018) festgehalten. 2021 wurde dann Darmkrebs festgestellt. Inzwischen ist der Musiker zu geschwächt, um noch Konzerte zu spielen, aber er komponiert weiter in einem atemberaubenden Tempo. Wo man bei manchen Musikern das Gefühl hat, sie seien irgendwann »auskomponiert«, von der Muse verlassen, hat man bei Sakamoto das Gefühl, er möchte noch sehr viel sagen, so lange er es noch kann. Und viel wichtiger: Er hat auch noch viel zu sagen.
Am 17. Januar erschien zu Sakamotos 71. Geburtstag sein erstes »eigenes« Album seit »async« (2017). Filmmusiken, Musik für Werbung, Ausstellungen und Veranstaltungen nicht mitgerechnet. Die Sammlung von zwölf neuen Kompositionen ist schlicht »12« betitelt, es sind Skizzen, die er nach einem längeren Krankenhausaufenthalt komponierte. Sie tragen nur den Tag ihrer Entstehung als Titel. Als würden Titel von der »puren« Musik ablenken.
Der erste der chronologisch geordneten musikalischen Tagebucheinträge ist ein dichter Nebel flächiger Keyboardklänge. Unaufgeregt, die Unsicherheit, was hinter dem Nebel liegt, was der Nebel offenbaren mag, ist greifbar. Der zweite Eintrag scheint wie ein vorsichtiges Tasten auf dem Piano. Als würde Sakamoto sich erst langsam wieder mit seinem Instrument vertraut machen müssen. Sehr viel Platz zwischen den Noten, jeder Ton hallt fast vollständig aus, bevor der nächste angeschlagen wird. In den Sekunden des Nachhallens liegt der Raum für mögliche Welten, die wir entdecken oder erschaffen, nicht in den Tönen selbst. Es ist die Spur, die sie hinterlassen, der Schweif des Kometen, der die Phantasie anregt: Diese Sekunden des Nachhalls sind die Sekunden, in denen man den Texturen der Klänge nachspüren kann, in denen Gedanken entstehen können. Das vorsichtige Tasten, das Ertasten der Welt, ist ein Charakteristikum, das sich durch das gesamte Album zieht.
Auf gewisse Weise ist »12« Ambient Music für imaginäre Räume. Oder für imaginative Räume. Stellenweise erinnert die Musik an Enos Ambient-Klassiker »Music For Airports«. Wo bei Eno aber immer das Anarchische des Nichtmusikers mitschwang, der den Ton einfach als Klangelement wahrnimmt und benutzt, sitzt hier allerdings ein Komponist im klassischen Sinne am Klavier und untermalt nicht nur bestehende (physische wie gedankliche) Räume, sondern lässt uns neue gedankliche Räume erschließen, indem er eine Stimmung anstößt und uns dann die Zeit lässt, sie wirken zu lassen.
Die Skizzen auf »12« sind von beeindruckender, kristallener Klarheit. Sakamoto hat sich entschieden, sie so roh stehenzulassen, wie sie entstanden sind. Als Zeugnis des kreativen Schaffens, nicht überdacht, nicht überarbeitet. Zwar ist Perfektion ja nicht per se etwas Negatives. Gerade Sakamoto hat in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gezeigt, dass es lohnt, die Kunst mit Liebe zum Detail zu perfektionieren. Aber er weiß auch, dass der stärkste unmittelbare Ausdruck meist nahe dem Augenblick der Schöpfung zu finden ist, wenn noch wenig Zeit zwischen Inspiration und Umsetzung verstrichen ist. Überhaupt scheint die Imperfektion in den letzten Jahren eine größere Rolle in seinem Werk zu spielen. Ob das nun in Zusammenhang mit seiner Erkrankung steht, sei erstens dahingestellt, zweitens ist es egal. Doch der Einsatz von ungestimmten Instrumenten, von Umgebungsgeräuschen, von allem, was sich dem direkten Einfluss des Künstlers entzieht, hat zugenommen. Das mag mit den in der japanischen Kultur tief verwurzelten Konzepten von »Wabi-Sabi« und »Mono No Aware« zu tun haben, die eine Wertschätzung für die Spuren, die die Zeit hinterlässt, zum Ausdruck bringen. Auf jeden Fall fordern diese Elemente die Fähigkeit des Künstlers, auf äußere Einflüsse zu reagieren.
Sakamoto hatte – vielleicht für viele überraschend – immer ein Faible für die spontane Improvisation (hierzu auch interessant: seine Arbeiten mit Alva Noto, die jetzt gesammelt bei Noton erschienen sind), insofern passen diese Imperfektionen besser zu ihm, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Sakamoto möchte diese Form des Tagebuchs auch künftig weiterführen. Möge er es noch sehr lange tun.
Ryuichi Sakamoto: »12« (Milan)
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