Wendepunkt im Weltkrieg
Von Harald Projanski
Als die Schlacht vorbei war, gestanden die Verlierer ein, dass sie unfähig waren, die Ursachen ihrer Niederlage zu erkennen. In der Meldung des Oberkommandos der Wehrmacht vom 3. Februar 1943, die in allen deutschen Zeitungen erschien, hieß es, die 6. Armee sei in Stalingrad »der Übermacht des Feindes und der Ungunst der Verhältnisse erlegen«. Wodurch waren sie bestimmt, die »Verhältnisse«, und was machte deren »Ungunst« aus? Warum konnte die modernste Militärmaschinerie der Welt, die des deutschen Imperialismus, die »Verhältnisse« nicht zu ihren Gunsten wenden? Auf diese Fragen wussten die Nazipropagandisten keine Antwort.
Die gesamte 6. Armee der Wehrmacht, bis zu 300.000 Soldaten, war im November 1942 bei Stalingrad von der Sowjetarmee eingekesselt und vernichtet worden. Rund 90.000 Soldaten gingen in Gefangenschaft. Die meisten von ihnen starben an Entkräftung und Krankheiten, nur 6.000 kehrten zurück. Die Rote Armee hatte annähernd 500.000 Soldaten verloren.
Bei der Kundgebung zur Befreiung Stalingrads versammelten sich am Vormittag des 4. Februar 1943 Soldaten und Einwohner der Stadt zwischen rußgeschwärzten Ruinen, Bombentrichtern, ausgebrannten Eisenbahnwaggons und zerstörten deutschen Militärfahrzeugen. In der Stadt, in der vor Beginn der Schlacht rund 600.000 Menschen gewohnt hatten, lebten noch knapp 10.000 Zivilisten. Hitlers Truppen hatten eine Todeswüste hinterlassen.
Blutspur
Die Idee für den Angriff auf Stalingrad hatte das Oberkommando der Wehrmacht bereits ab November 1941 entwickelt, als Hitlers Armee daran gescheitert war, Moskau zu erobern. Am 5. April 1942 bestätigte das »Führerhauptquartier« eine Weisung, die vorsah, die deutschen Angriffskräfte im Südabschnitt der Front zu konzentrieren. Hitler war der Ansicht, dass »der Feind die Massen seiner Reserven im ersten Kriegswinter weitgehend verbraucht« habe. Daher befahl er der Wehrmacht, zugleich nach Stalingrad und nach Süden in den Kaukasus vorzustoßen.
Worum es den Nazis dabei ging, verkündete Propagandaminister Joseph Goebbels in einer Kolumne in der Wochenzeitung Das Reich am 31. Mai 1942. Deutschland, so Goebbels, führe einen »Krieg für Getreide und Brot«, einen »Krieg um die Rohstoffe, um Gummi, Eisen und Erze«. Für den Sieg versprach Goebbels den Deutschen »einen vollgedeckten Frühstücks-, Mittags- und Abendtisch«. Es fanden sich genug, die Appetit darauf hatten und bereit waren, dafür über Leichen zu gehen. So auch die Soldaten der 6. Armee, die ab Juli 1942 Richtung Stalingrad vorstieß. Schon bevor sie sich Stalingrad näherte, hatte sie bereits eine Blutspur durch das überfallene Sowjetland gezogen. Offiziere des der 6. Armee unterstellten XXIX. Armeekorps waren an der Planung des Massakers von Babi Jar (ukrainisch: Babyn Jar) beteiligt, bei dem im September 1941 etwa 33.000 jüdische Sowjetbürger ermordet worden waren. Oberbefehlshaber der 6. Armee war damals Walter von Reichenau, bekannt durch den sogenannten Reichenau-Befehl vom 10. Oktober 1941. Darin hieß es, »der Soldat« müsse »für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum volles Verständnis haben«.
Am 23. August 1942 erreichte die 6. Armee Stalingrad und stieß auf heftigen Widerstand der Roten Armee. Am selben Tag griff die deutsche Luftwaffe mit 600 Maschinen die Stadt an. Dabei kamen nach Schätzungen etwa 40.000 Menschen ums Leben. Die Wehrmacht und ihre Hilfstruppen, darunter Rumänen, Kroaten, ukrainische und auch russische Kollaborateure, stießen im September und Oktober immer weiter in die Stadt vor. Die Verteidigung der großen Industriestadt wurde dadurch behindert, dass die Wolga die Stadt teilte. Das erschwerte sowohl die Versorgung der Truppen als auch das Manövrieren.
Erbittert gekämpft wurde vor allem um das große Traktorenwerk, das seit 1940 den Panzer T-34 produzierte. In dem umkämpften Betrieb reparierten Panzersoldaten und Traktorenwerker beschädigte Kampfpanzer. Im Werk verteidigten Arbeiterabteilungen gemeinsam mit den Rotarmisten die Fabrik. Darunter waren auch Kämpfer aus der Zeit des russischen Bürgerkrieges, welche die Stadt 1919 gegen die konterrevolutionären Weißgardisten verteidigt hatten. Lenin hatte damals Stalin mit der Verteidigung der Stadt beauftragt.
Schwerpunkte der Kämpfe waren auch das Stahlwerk »Roter Oktober« und der Mamajewhügel, eine große Erhebung, von der aus sich die Stadt überblicken lässt. Seit September 1942 führte der damals 42 Jahre alte Generalleutnant Wassili Tschuikow die Verteidiger Stalingrads. Der Bauernsohn, seit 1919 Mitglied der Kommunistischen Partei, hat seine Erinnerungen über den Kampf um Stalingrad 1975 in Moskau veröffentlicht. Die deutsche Fassung »Die Schlacht des Jahrhunderts« erschien im Militärverlag der DDR. Tschuikow hatte in den Jahren 1940 bis 1942 als Militärattaché in China gedient. Diese Tätigkeit war eng mit der Militäraufklärung verbunden.
Den Feind durchschauen
Tschuikow war bewusst, dass die Rote Armee in Stalingrad einem überlegenen Feind gegenüberstand. Die Wehrmacht war zahlenmäßig »in allen Waffengattungen weit überlegen«, vor allem an Panzern, aber auch an Artillerie, schrieb er in seinen Memoiren. Die Fliegerkräfte der Sowjets verfügten zu Beginn der Schlacht nur über ein Zehntel der Maschinen der Deutschen. Zudem hatte die Rote Armee in der Stadt »weder Pferde noch andere Zugmittel«. Dies führte zu starken Verlusten. Freimütig bekannte Tschuikow rückblickend, dass sich »der Mangel an Munition und Verpflegung« und die »Schwierigkeiten beim Einsatz von Menschen und Technik« durchaus »nachteilig auf die Kampfmoral« ausgewirkt hätten.
Ein Hebel, die Lage zu ändern, war verbesserte Aufklärung. In den ersten Wochen der Kämpfe um Stalingrad hatte die Rote Armee nur unzureichende Kenntnisse über den Gegner. Der erfahrene Militäraufklärer Tschuikow ließ seine Offiziere detaillierte Informationen über die Verteilung der deutschen Kräfte sammeln. Sowjetische Späher schlichen nachts hinter die deutschen Linien. In der Stadt gebliebene Zivilisten halfen beim Sammeln von Informationen über die Wehrmacht, stets unter Lebensgefahr. Tschuikow ging es darum zu erfahren, »was der Gegner am nächsten Tag oder eine Woche später vorhatte«. Aber er bemühte sich zugleich auch darum, den Feind analytisch zu durchschauen. Ihm war bekannt, wie effektiv die Wehrmacht organisiert war, wie gut die Übermittlung von Nachrichten zwischen Fliegern, Panzern und Infanterie funktionierte. Er erkannte, dass die Schwäche des Gegners im Nahkampf lag. Und er erkannte, dass die Deutschen zu einer »gut durchgearbeiteten, wenn auch schablonenhaften Taktik« neigten.
Nahkampf, das hieß, dass Soldaten den Gegner mit Handgranaten und Maschinenpistolen, auch mit Spaten und Messern attackierten. Oft entschied der Kampf um ein Treppenhaus die Kontrolle über ein Gebäude. Ende Oktober gelang es der Wehrmacht, die Rote Armee auf dem rechten Ufer der Wolga in zwei Gruppen zu spalten, die nur noch Streifen von wenigen hundert Metern verteidigten. Eine wichtige Rolle bei der Verteidigung der Stadt spielten sowjetische Scharfschützen. Der britische Historiker Antony Beevor mokiert sich in seinem Buch »Stalingrad«, die Sowjetunion habe »um diese finstere Kunst« eine Propaganda betrieben, die »nahezu hysterisch« gewesen sei. Was Beevor nicht erkannte: Die sowjetische Scharfschützenbewegung war eine Antwort auf die Herausforderung durch die Nazis. Die Hitlerjugend, die 1939 mit annähernd neun Millionen Mitgliedern fast die gesamte deutsche Jugend umfasste, hatte schon vor dem Krieg in »Schießwettkämpfen« die besten Schützen ermittelt. Die reichte sie bald darauf an Wehrmacht und Waffen-SS weiter. So kamen deutsche Schützenkönige, auf Kleinstadtfesten in den dreißiger Jahren noch als Kinder bejubelt, den Sowjetbürgern 1942 als Mordbuben entgegen.
Daher war die Ausbildung von Scharfschützen durch die Rote Armee nicht Ausdruck von Finsternis, sondern von Weitsicht. Viele der Scharfschützen waren im Kommunistischen Jugendverband (Komsomol) erzogen worden. Die Jugendorganisation der KPdSU wie auch die Partei selbst spielten eine besondere Rolle in der Schlacht von Stalingrad, die bürgerliche Betrachter meist völlig außer acht lassen. »Keine Kompanie war ohne Parteigruppe«, schrieb Tschuikow. Es gab Bataillone, die nur aus Kommunisten und Komsomolzen bestanden. Die Kommunisten verbreiteten in Stalingrad Plakate, die den Ernst der Lage ausdrückten: »Genosse, wenn du den Feind nicht in Stalingrad zum Stehen bringst, kommt er auch in dein Dorf und wird dein Haus zerstören.« In Stalingrad gelang es der KPdSU, nicht nur Kommunisten zu mobilisieren, sondern auch Nichtkommunisten, orthodoxe Christen, selbst Menschen, die noch dem Zarenreich nachtrauerten. Die Reden und Aufrufe Stalins während des Krieges spiegeln diese entscheidende Fähigkeit der sowjetischen Kommunisten.
Gegenschlag
Ende Oktober 1942 zeigte sich, so Tschuikow in seinen Erinnerungen, »dass die Kräfte beider Seiten zu Ende gingen«. In dieser Lage bereitete die sowjetische Führung den entscheidenden Gegenschlag vor. Stalin erhielt ausführliche Planungen der Militärs, stellte detailliert Fragen und zeichnete die Pläne mit seinem blauen Stift ab. Am 13. November beschloss das Politbüro des Zentralkomitees der KPdSU den Plan zur Offensive im Raum Stalingrad, die Operation »Uran«. Mit einer Million Soldaten, 13.500 Geschützen und rund 900 Panzern stieß die Rote Armee nordwestlich von Stalingrad auf einer Breite von 28 Kilometern bei dichtem Nebel in die Flanke der Wehrmacht. Zugleich griff ein Panzerkorps von Südwesten her die Deutschen westlich vor Stalingrad an. Am 23. November 1942 vereinigten sich die sowjetischen Truppen südwestlich von Stalingrad. Damit waren 330.000 feindliche Soldaten eingeschlossen. Mit den eingekesselten Hitlertruppen ging es in den kommenden Wochen zügig bergab. Der Versuch der Luftwaffe, den Kessel aus der Luft zu versorgen, scheiterte nicht zuletzt an der sowjetischen Luftabwehr. Der Hunger, den Hitlers Soldaten über die besetzten Gebiete gebracht hatten, traf nun sie selbst. Am 8. Dezember 1942 erhielten die deutschen Soldaten im Kessel noch 200 Gramm Brot, am 31. Dezember nur noch 80 Gramm.
Als Nachschlag zu den Hungermahlzeiten servierten die Hitler-Generäle Lügen. In seinem Neujahrstelegramm an die 6. Armee zum 1. Januar 1943 versprach Feldmarschall Erich von Manstein den Eingeschlossenen die »baldmöglichste Befreiung«. In Westdeutschland avancierte Manstein nach dem Krieg mit seiner Rechtfertigung »Verlorene Siege« zum Bestsellerautor.

Die von ihrer Führung belogenen Wehrmachtssoldaten in Stalingrad jagten Katzen, Hunde und Ratten und kochten Suppen aus Sägemehl. Die Wahrheit über ihre Lage verkündeten Flugblätter der Roten Armee, nachdem die Generäle der Wehrmacht die von der Roten Armee am 8. Januar 1943 angebotene Kapitulation abgelehnt hatten: »Deutsche Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften! Euer Schicksal liegt jetzt in eurer eigenen Hand.« Und: »Schickt eure Vertreter mit weißer Flagge! Verlasst die Gräben und Bunker mit erhobenen Händen! Nur so werdet ihr euer Leben retten.«
Fast alle Wehrmachtssoldaten aber vertrauten folgsam ihren Offizieren und Generalen und deren Warnungen vor Moskaus Desinformation. Doch selbst die Naziführung, die ihre Soldaten in Stalingrad weiter verheizte, erkannte Ende Januar, dass die Schlacht für sie verloren war. Wie sehr diese Niederlage die Naziführung traf, zeigt ein Tagebucheintrag von Goebbels vom 23. Januar 1943: Die deutschen Truppen seien »durch Hunger und Kälte so herunter, dass sie zu keinen Kampfleistungen mehr fähig sind«. Goebbels schrieb: »Der Führer ist durch diese Nachrichten auf das tiefste erschüttert.« Der Propagandaminister schilderte, wie ein junger Major, aus Stalingrad ausgeflogen, ihm und Hitler Vortrag hielt: »Die Truppen haben nichts mehr zu essen, nichts mehr zu schießen und nichts mehr zu feuern. Reihenweise sitzen sie in den Bunkern, verhungern und erfrieren.«
Doch solche Details enthielt Goebbels der Öffentlichkeit lieber vor. Am 4. Februar 1943 notierte er in sein Tagebuch: »Wir sind nunmehr gezwungen, die Aufgabe von Stalingrad dem deutschen Volke mitzuteilen.« Goebbels erkannte sofort: »Die Meldung von Stalingrad übt im deutschen Volke eine Art Schockwirkung aus.« Der Glaube an den Sieg, mit dem die Nazis das Volk zum Narren hielten, war nach der Niederlage von Stalingrad selbst bei vielen Anhängern des Naziregimes tief erschüttert.
Tiefe Gegensätzlichkeit
Dass die Nazis bei ihrem Krieg gegen die Sowjetunion und gegen andere Völker vor allem an ihrer rassistischen Ideologie scheitern würden, war eine Einschätzung, zu der die sowjetische Führung schon bald nach Beginn des deutschen Überfalls gekommen war. Bereits in seiner ersten Rundfunkrede wenige Tage nach dem Überfall Hitlerdeutschlands, am 3. Juli 1941, definierte Stalin den Charakter des Krieges als »vaterländischen Befreiungskrieg gegen die faschistischen Versklaver«. Deren Ziel sei die »Zerstörung der nationalen Kultur und nationalen Staatlichkeit« vieler Völker, darunter der Russen, Ukrainer, Belarussen, Litauer, Letten und Esten.
In einem Befehl vom 23. Februar 1942 verkündete Stalin in seiner Funktion als Volkskommissar für Verteidigung: »Die Rote Armee ist frei vom Gefühl des Rassenhasses.« Denn sie sei »erzogen im Geiste der Rassengleichheit und der Achtung gegenüber den Rechten anderer Völker«. Daher bekämpfe die Rote Armee die deutschen Soldaten nicht aus Hass gegenüber allem Deutschen, sondern nur als »faschistische Okkupanten«, die »unsere Heimat versklaven wollen«. Die Rote Armee führe den Krieg »zur Vertreibung und Vernichtung der Hitlerclique«. Dabei argumentierte Stalin, »es wäre lächerlich, die Hitlerclique mit dem deutschen Volk gleichzusetzen, mit dem deutschen Staat«. Darauf folgte der später oft zitierte Satz: »Die Erfahrungen der Geschichte besagen, dass die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt.«
Stalin wies darauf hin, die Rote Armee nehme »deutsche Soldaten und Offiziere gefangen, wenn sie sich gefangen geben, und bewahrt ihnen das Leben«. Damit streckte die Sowjetunion den Mitläufern des Feindes schon die Hand zur künftigen Versöhnung aus. Die Nazipropaganda aber versuchte, den Deutschen einzureden, die Rote Armee mache keine Gefangenen. Im Dezember 1942 schrieb Goebbels in sein Tagebuch, es seien »etwa vier- bis sechshundert Postkarten aus russischen Gefangenenlagern im Reich angekommen, die ohne jede Propaganda sind«. Goebbels höhnte, »die Bolschewisten« wollten »sich wohl jetzt als gesittete und zivilisierte Nation aufspielen«. In Zukunft, so der Propagandaminister, sollten solche Karten »nicht mehr den Angehörigen ausgeliefert werden«. Die Nazis wollten »diese Frage« künftig »außerordentlich delikat« behandeln – die Sowjetunion hatte die Hitleristen vorgeführt.
Hitler und Stalin, die »beiden Diktatoren«, wie sie in der bürgerlichen Geschichtsbetrachtung des Westens bezeichnet werden, zeigten sich in der Schlacht von Stalingrad in ihrer tiefen Gegensätzlichkeit, als Persönlichkeiten, als Träger von Weltanschauungen und als Militärstrategen. Das zeigt ein Vergleich zweier Reden, die Hitler und Stalin Anfang November während der Schlacht um Stalingrad hielten. Am 8. November 1942 sprach Hitler wie jedes Jahr am Vorabend des Jahrestages seines gescheiterten Putsches von 1923 in München. Im Löwenbräukeller hielt er eine Rede vor alten »Parteigenossen«. In der im Rundfunk übertragenen Ansprache bekannte er sich zur »Ausrottung des Judentums in Europa«. Hitler ließ sich als bekennender Vabanquespieler feiern: »Ich höre grundsätzlich erst fünf Minuten nach zwölf auf.«
Der »Führer« begründete den Angriff auf Stalingrad damit, dass dort ein »gigantischer Umschlagplatz« sei, man schneide dort »30 Millionen Tonnen Verkehr« ab. Dieser Platz sei im Grunde bereits eingenommen: »Wir haben ihn nämlich. Es sind ein paar ganz kleine Plätzchen noch da«. Gemeint war der von den Sowjets kontrollierte Teil der Stadt. Hitler höhnte, der sowjetische Gegner solle »ruhig dann angreifen, er wird sich dabei schwer ausbluten«. Und er setzte sich mit nicht namentlich genannten Kritikern in Deutschland auseinander, die sagten, der Vormarsch nach Stalingrad sei »ein strategischer Fehler«. Seine Antwort darauf: »Das wollen wir mal abwarten, ob das ein strategischer Fehler war.« Hitler prahlte unter dem Beifall seiner Anhänger: »Was wir einmal besitzen, das halten wir dann auch tatsächlich so fest, dass in diesem Krieg jedenfalls ein anderer dort, wo wir stehen, nicht mehr hinkommt.« Da waren es nicht einmal mehr zwei Monate bis zur Gefangennahme der letzten deutschen Soldaten in Stalingrad.
Zwei Tage vor Hitlers Rede hatte Stalin in Moskau vor Parteifunktionären zum 25. Jahrestag der Oktoberrevolution gesprochen. Dabei konstatierte er, dass die Hitlertruppen bei Stalingrad und an der Kaukasusfront ein »großes Übergewicht an Kräften« hätten. Sie seien daher in der Lage, einen »ernsthaften Angriff« zu führen, und »haben einen bedeutenden taktischen Erfolg erreicht«. Doch seien »die strategischen Pläne der Deutschen eindeutig unrealistisch«. Das Problem der Deutschen bestehe darin, so Stalin, dass sie »zwei Hasen gleichzeitig gejagt hätten« – eine Anspielung auf das russische Sprichwort, wer zwei Hasen gleichzeitig jage, fange keinen von ihnen. Gemeint war das Ziel der Deutschen, Moskau zu erobern, und der Versuch, die Sowjetunion vom Öl aus Baku und Grosny abzuschneiden.
Die »Hauptursache der taktischen Erfolge der Deutschen«, so Stalin, sei »das Fehlen einer zweiten Front in Europa«. Insgesamt dreimal erwähnte Stalin in seiner Rede das Fehlen einer von den US-Amerikanern und Briten eröffneten zweiten Front. Zugleich gab Stalin die Prognose, es werde sie »früher oder später« geben. Begründung: »Unsere Verbündeten brauchen sie nicht weniger als wir.« Dabei sei »die Logik der Dinge stärker als jede andere Logik«.
Hitler konnte in seiner Rede und auch sonst kein genaues Ziel seiner Eroberungspolitik angeben. Er zeigte sich als maßloser Abenteurer. Stalin dagegen benannte in seiner Ansprache am 6. November 1942 präzise und realistisch das Kriegsziel der Sowjetunion: »Unsere erste Aufgabe«, so Stalin, bestehe darin, »den Hitlerschen Staat zu vernichten«. Die »zweite Aufgabe« sei es, »die Hitlersche Armee und ihre Führer zu vernichten«. Was Stalin bereits wusste, aber noch nicht öffentlich sagen konnte: Die seit September geplante Einkesselung der Wehrmacht in Stalingrad stand unmittelbar bevor.
Im Gegensatz zum prahlerischen Hasardeur Hitler erwies sich Stalin als nüchtern kalkulierender Stratege mit einem Gespür für die langfristige Schwäche des noch überlegenen Feindes. Das wurde damals selbst in den USA anerkannt. Das US-Magazin Time setzte Stalin im Januar 1943 auf den Titel, als »Man of the year«.
Wirkungen bis heute
Die Fähigkeiten der sowjetischen Führung wurden im Herbst 1942 auch 5.000 Kilometer östlich von Stalingrad gewürdigt. Am 12. Oktober 1942, mehr als einen Monat, bevor die Rote Armee die Wehrmacht in Stalingrad einkesselte, schrieb Mao Zedong in der in Yenan im Norden Chinas erscheinenden Tageszeitung Djiänfang Jibao eine hellsichtige Prognose. Im »Auftreten der gesamten faschistischen Kräfte« sei die »Offensive gegen Stalingrad ihr letzter Verzweiflungskampf«. Die Hitlertruppen seien in Stalingrad »in eine ausweglose Lage« und »in eine Sackgasse« geraten. Das neue Stadium des Krieges, »das in diesem Winter beginnt, wird Hitler ins Grab bringen«. Denn die »weise strategische Führung Stalins« habe »voll und ganz die Initiative inne«. Die Schlacht in Stalingrad sei »nicht nur der Wendepunkt im gegenwärtigen Weltkrieg gegen den Faschismus, sondern auch ein Wendepunkt in der gesamten Menschheitsgeschichte«.
Mao, dessen Sohn Anying ab 1943 in den Reihen der Roten Armee kämpfte, sah nicht nur den Untergang Hitlers voraus. Er verstand zudem, dass sich in der Stadt an der Wolga auch das Schicksal Chinas entschied. Aus heutiger Sicht bedeutet dies: Die sowjetischen Sieger von Stalingrad haben nicht nur die Wende im Weltkrieg, sondern auch in der Weltpolitik eingeleitet, die fortwirkt bis auf den heutigen Tag.
Harald Projanski schrieb an dieser Stelle zuletzt am 16. November 2022 über die Tagung des internationalen Diskussionsklubs Waldai in der Nähe von Moskau.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude, Russland ( 3. Februar 2023 um 09:38 Uhr)»In Stalingrad gelang es der KPdSU, nicht nur Kommunisten zu mobilisieren, sondern auch Nichtkommunisten, orthodoxe Christen, selbst Menschen, die noch dem Zarenreich nachtrauerten.« Daran hat sich bis heute nichts geändert. In Deutschland wäre es schlicht undenkbar, dass der Familie von Wilhelm II. mit Beiträgen im Fernsehen oder in der Presse soviel Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, wie der Familie der Romanows in Russland. In Russland kennt (!) und bewahrt man seine Geschichte im Gedächtnis. In Deutschland gibt es ebenfalls keine vergleichbar starke kommunistische Partei, keine unzähligen Filme im Fernsehen, gedreht aus rein kommunistischer Sicht, aber auch Verfilmungen der Werke Solschenizyns, keinen vergleichbaren Einfluss der Kirche. Einer der größten Kritiker Lenins ist Putin, der dennoch stets alle Vorschläge der Liberalen ablehnt, Lenin aus dem Mausoleum zu entfernen oder Straßennamen sowie Denkmäler der Sowjetzeit zu schleifen. Hatten wir solche Politiker auch in Deutschland nach dem »Anschluss« der DDR? Diese Vielfalt innerhalb einer angeblichen »Putindiktatur« ist eine der Stärken Russlands. Das Berliner Lenin-Denkmal können dagegen ortskundige Radfahrer an der abgelegensten Stelle des Stadtwaldes vergraben aufsuchen. Ich war gerne da. Blumen gab es genug rings um. Was in Deutschland vor sich geht, könnte man auch mit der Nazivokabel »Gleichschaltung« umschreiben. Die Erinnerung an die DDR wurde tatsächlich mit Erfolg »ausgerrrrottet«, möglichst tief vergraben, vor allem die Erinnerung an den Krieg gegen Russland 1941–45. Man muss das Stalin-Zitat ergänzen: »… aber das deutsche Volk bleibt«, und macht genauso weiter wie vorher, aus Geschichtsvergessenheit.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus ( 3. Februar 2023 um 00:36 Uhr)Man kann bereits die deutsche Niederlage in der Schlacht um Moskau vor 80 Jahren, am 31. Januar 1942, sieben Monate nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Sowjetunion, als Wendepunkt des Krieges betrachten. Denn schon dort scheiterte die Blitzkriegstrategie der Deutschen, die einzig mögliche militärische Strategie des im Vergleich zur Gesamtheit seiner Gegner bevölkerungs- und ressourcenschwachen Deutschlands, seine Nachbarn zu überrumpeln und zu besiegen. Bereits Mitte des Jahres 1942, drei Jahre nach Beginn des Krieges, verfügte Hitlerdeutschland schon nicht mehr über die notwendigen wirtschaftlichen und militärischen Reserven für einen erfolgreichen Feldzug gegen die Sowjetunion. Den Deutschen war die Zeit davon gelaufen, auch dank des Einsatzes der Rotarmisten und Hunderttausender sowjetischer Bürger während der Schlacht um Moskau.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in André M. aus Berlin ( 2. Februar 2023 um 10:49 Uhr)Ein hellsichtiger und notwendiger Artikel zur Schlacht an der Wolga. Im Grunde kann man durchaus die Situation von damals mit der heutigen Konfliktsituation vergleichen. Der selbe Ausbund von westlichem Kolonialismus und Imperialismus versucht die Ukraine von Russland zu reißen um eines strategischen Vorteils willen. Die Reaktionen (gerade die jüngsten) aus China, Südamerika und Afrika zeigen eindeutig, dass man die Handlungsmaximen und die dümmliche Propaganda des Westens genau durchschaut hat. Die russische Armee hat schwere taktische Fehler gemacht, massiv Kampfkraft eingebüßt und keine klare Strategie entwickelt – bisher. Das kann und wird sich ändern. Die Geschichte ist eine wirkungsmächtige Sache. Der Westen muss auf diese Wirkungsmacht verzichten, weil er im Zusammenhang mit dem aktuellen Konflikt einfach keine anzubieten hat, außer Empörung, Waffenlieferungen und Selbstbetrug. Russland und China sind daher Garanten einer wirklichen postwestlichen multipolaren Ordnung. Die strategische Neutralität des großen »Restes« der Welt gibt Hoffnung, dass das Hasardeurspiel des Westens für ihn nicht aufgehen wird.
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Leserbrief von Hans-Joachim Wolfram aus Sondershausen ( 4. Februar 2023 um 11:49 Uhr)Der Vergleich zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem heutigen Ukraine-Krieg ist absurd. Der Krieg gegen die damalige Sowjetunion war ein Vernichtungskrieg um freien Siedlungsraum für die deutschen Herrenmenschen zu schaffen. Der Krieg in der Ukraine ist von beiden Seiten langsam in der Eskalationsspirale nach oben geschraubt worden. Dass dann von russischer Seite mit dem Überfall begonnen wurde, das war unüberlegt und ein strategischer Fehler. Jedoch ist dieser Krieg nicht als ein Vernichtungskrieg seitens Russland geplant worden. Handelt es sich doch um keine ethnische »Säuberung« im Sinne der Nazis, sondern eher um die gewaltsame Eingemeindung und damit verbundene Einsetzung einer russlandfreundlichen Regierung. (…) Was der politischen Führung Russlands fehlte, das war die Geduld abzuwarten, bis sich der Westen von selbst zerlegt. Die USA sind eine absterbende Großmacht. Das gilt für alle neoliberalen Staaten, da der Neoliberalismus grundsätzlich mit Leichenfledderei gleichzusetzen ist. Das Prinzip, ein System ohne jegliche Investitionen und Innovation zum eigenen Profit bis zum unbrauchbaren Kadaver auszuweiden, ist die Denkungsart von den »Chicago Boys«, Margaret Thatcher, Hajek, den Dahrendörfern, den vielen kleingeistigen Sinn’s und Hüthern bis in die Bundesregierung, die bei der drohenden Gefahr die BRD dem Erdboden gleichmachen zu lassen, über Leichen geht. Wenn man also den Neoliberalen freien Lauf lässt, dann sieht man ja am Beispiel Chile, wo eine solche Diktatur endet: im Bankrott. Jetzt jedoch wird die Götterdämmerung wieder unnötig verlängert werden.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude, Russland ( 3. Februar 2023 um 05:45 Uhr)Sie schreiben: »Die russische Armee hat schwere taktische Fehler gemacht, massiv Kampfkraft eingebüßt und keine klare Strategie entwickelt – bisher.« Fehler sicher, aber den Rest der Aussage darf man bezweifeln. Beispielsweise wäre es ohne den Angriff auf den Norden der Ukraine (die Gegend um Kiew, die später wieder geräumt wurde) nicht möglich gewesen, die Territorien am Asowschen Meer so schnell und bisher dauerhaft zu besetzen, weil dadurch auch die Kräfte der Ukraine zersplittert wurden und in den ersten Kriegstagen dort Verwirrung entstand. Die durchaus erkennbare Strategie Russlands besteht in folgendem: Das Ziel des Westens war und ist, Russland ohne Rücksicht auf die Ukraine in einen Krieg zu verwickeln, in dem es seine Kampfkraft und Wirtschaftskraft verschleißt. Das genau will Russland nicht oder zumindest bremsen. Es setzte bisher weder seine eigentliche volle Kampfkraft ein, noch die modernsten Waffen. Es gibt kein Kriegsrecht und keine allgemeine Mobilmachung, nur eine begrenzte. Auch dieses begrenzte Kontingent ist nicht voll eingesetzt. Die verbleibenden Soldaten haben Zeit, eine längere Ausbildung zu durchlaufen. Man schiebt derweil die Wagner-Truppe an die Brennpunkte. Das Ziel Russlands war es, seine Kampfkraft im Gegensatz zur Ukraine, die sich bereits über alle Maßen voll verausgabt hat, in Reserve zu halten für die eventuell noch folgenden Auseinandersetzungen mit der NATO. Die Zeit ist Bestandteil dieser Strategie. Russland hat Zeit, die Ukraine nicht, so wie dieser bankrotte Staat aussieht. Wenn jemand seine Kampfkraft nicht voll einsetzt, bedeutet das nicht, dass er sie nicht hat. Oder bettelt Russland etwa irgendwo jeden Tag um Waffen oder Geld? Der Westen setzt seine volle Kampfkraft aus den gleichen Gründen ebenfalls nicht ein. Keiner würde deshalb auf die Idee kommen, dass er sie eingebüßt hat.
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