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Aus: Ausgabe vom 02.02.2023, Seite 1 / Titel
Arbeitskampf

Aufstand gegen Tories

Massenstreiks in Großbritannien: Lehrer, Lokführer, Beamte und viele andere legen im Kampf um höhere Löhne die Arbeit nieder
Von Dieter Reinisch
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Zehntausende haben am Mittwoch in London für einen Inflationsausgleich demonstriert

Es war der größte Streiktag in Großbritannien seit mehr als einem Jahrzehnt: Am Mittwoch haben landesweit Hunderttausende Lehrkräfte, Lokführer und Beschäftigte im öffentlichen Dienst im Kampf um höhere Löhne ihre Arbeit niedergelegt. Gleichzeitig organisierte der Gewerkschaftsverband TUC einen Aktionstag gegen das Antistreikgesetz. Mit diesem Gesetz, das am Mittwoch in dritter Lesung vom Unterhaus angenommen wurde und nun weiter im House of Lords diskutiert wird, will die konservative Regierung in Zukunft Arbeiter zwingen, Streikposten zu verlassen. Weigern sie sich, dies zu tun, droht die Kündigung.

In einer Aussendung schrieb der TUC am Morgen des Aktionstags: »Da die Krise der Lebenskosten weiterhin Beschäftigte überall trifft, müssen wir in der Lage sein, zusammenzustehen und zu streiken, wenn es nötig ist.« Anstatt die Inflationskrise anzugehen, greife Premierminister Rishi Sunak »unsere grundlegendsten Rechte an«, so der Gewerkschaftsverband, der die Kampagne weiterführen will, bis das Gesetz zurückgezogen wird. Klagen vom TUC und einigen Einzelgewerkschaften sind bereits in Vorbereitung, doch entgegen einer ersten Stellungnahme vom Januar plant der TUC nun vermehrt Proteste: »Die Kampagne zum Schutz unseres Streikrechts endet nicht hier. Es ist noch Zeit, dieses Gesetz abzuschaffen. Aber das geht nur, wenn wir auf die Straße gehen.«

In den vergangenen Wochen hatten mehrere Einzelgewerkschaften den TUC zu mehr Militanz gedrängt. So hatte die Feuerwehrgewerkschaft FBU bereits am 9. Januar einen Generalstreik gefordert, um das Vorhaben zu Fall zu bringen. Die Feuerwehrleute sind vom Antistreikgesetz als eine von sechs Berufsgruppen direkt betroffen. In den kommenden Wochen werden sie deshalb erstmals seit 2003 streiken.

Insgesamt gingen am Mittwoch mindestens eine halbe Million Arbeiter in den Ausstand, darunter bis zu 200.000 Lehrer und über 100.000 Mitglieder der Beamtengewerkschaft PCS in Ministerien und an den Grenzkontrollen. Laut Lehrergewerkschaft NEU waren 85 Prozent der Schulen sowie alle Universitäten, bei denen 70.000 Angestellte die Arbeit niederlegten, von der Arbeitsniederlegung betroffen. Außerdem fanden in ganz Großbritannien mehr als 80 Kundgebungen gegen das Antistreikgesetz statt.

Neben den Streiks der Lehrer führten insbesondere die Arbeitsniederlegungen der Lokführer zu erheblichen Beeinträchtigungen des Alltags. Bei den letzten Streiks der Lokführergewerkschaft ASLEF fielen über 90 Prozent der Verbindungen aus. Nach gescheiterten Verhandlungen sei eine Einigung nun »weiter entfernt als noch zu Beginn«, erklärte ASLEF-Generalsekretär Mick Whelan am Mittwoch gegenüber PA News. Auch die RMT-Lokführer schlossen sich den Arbeitskampfmaßnahmen an, wodurch alle Bahngesellschaften in England und die meisten in Wales und Schottland von den Streiks betroffen waren.

Die Aktionen werden in den kommenden Tagen mit derselben Intensität weitergehen. Am 6. und 7. Februar wird etwa im Gesundheitssystem NHS die Arbeit niedergelegt. In der ersten Februarwoche werden über 1,5 Millionen Menschen an den Arbeitskämpfen teilnehmen.

Derweil steigt in der Bevölkerung die Zustimmung für die Streiks. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov, die die New York Times am Mittwoch veröffentlichte, unterstützt die Mehrheit der Briten die kämpfenden Arbeiter. 66 Prozent befürworten sogar die geplanten Streiks im Gesundheitswesen.

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  • Leserbrief von Reinhold Schramm aus 12105 Berlin ( 2. Februar 2023 um 18:30 Uhr)
    Und Deutschland? Keine nennenswerten Arbeitskämpfe in Deutschland. Die Folgen von Faschismus und Sozialpartnerschaft für Deutschland. Deutschlands Arbeiterklasse und Erwerbsbevölkerung, ein Weltmeister: bei der Verweigerung von Arbeits- und Lohnkämpfen? In Deutschland pro Tausend Erwerbstätige neun Streiktage im Jahr 2022. Die durchschnittlichen Erwerbstage: 250/251, im Jahr 2022. Bei 251.000 Arbeitstagen für Tausend Erwerbstätige im Jahr 2022 liegt damit der Anteil der »Streik-Sekunden« im Durchschnitt bei: 1,03 Sekunden. Berechnung: durchschnittliche Arbeitstage: 251 Tage im Jahr 2022; die Arbeitszeit in Minuten am Tag: 480 Minuten (für 9 Streiktage: 4320 Minuten). Für 251 000 Arbeitstage beträgt die Streikbeteiligung: 4320 Minuten, bzw. 259200 Sekunden. Demnach, 259.200 Sekunden, geteilt durch 251 000 Arbeitstage: Durchschnittlich 1,033 Sekunden Streikbeteiligung pro Kopf und Tag; bzw. 4,32 Minuten im Jahr. PS: Die tägliche Pinkelpause in Deutschland beansprucht mehr Zeit als die Jahresbeteiligung am Streik.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart ( 2. Februar 2023 um 10:57 Uhr)
    Etwa 500.000 Beschäftigte haben sich am Mittwoch an den Arbeitskampfmaßnahmen beteiligt und haben sowohl der britischen als auch der schottischen Regierung deutlich zu verstehen gegeben, dass sie die Lebenshaltungskostenkrise sehr stark zu spüren bekommen und eine Anhebung ihrer Löhne auf ein Niveau fordern, von dem sie leben können. Sie forderten die britische Regierung auf, ihre »Unnachgiebigkeit« bei den Verhandlungen aufzugeben und mehr Geld auf den Tisch zu legen. Der Streik war für Millionen andere unangenehm, aber im Moment ist es die Regierung, die den größten Teil der Schuld auf sich nimmt, denn die Minister haben auf legitime Beschwerden mit selbstherrlicher Geringschätzung reagiert. Die Mehrheit des Landes spürt den enormen langfristigen Druck auf sein Einkommen. Eine kleine Minderheit genießt ausreichenden Reichtum, um von den Belastungen, die auf den normalen Menschen lasten, verschont zu bleiben. Diese glückliche soziale Schicht ist im Kabinett von Herrn Sunak, wie auch in den Westdemokratien überall überproportional vertreten. Und was tun, was plant diese Regierung: Wenn der Prämie Sunak einen Plan für den Umgang mit der größten Arbeitskampfwelle in Großbritannien seit einer Generation hat, dann scheint er darauf zu warten, dass sich die öffentliche Meinung gegen die Streiks wendet. Um diesen Prozess zu beschleunigen, stellen die Minister die Gewerkschaften als selbstsüchtige Kämpfer dar, die den Bürgern schaden, die auf die unterbrochenen Dienstleistungen angewiesen sind. Kann dieser Plan aufgehen? Herr Sunak ist weder populär genug, noch hat er die moralische Autorität, so viel auf eine Konfrontation mit Leuten zu setzen, deren Referenzen im öffentlichen Dienst viel besser sind als seine eigenen. Wenn er überleben will, braucht er einen neuen Plan.

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