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Aus: Ausgabe vom 31.01.2023, Seite 12 / Thema
Literaturgeschichte

Selten so schnell vergessen

Vor 200 Jahren wurde Elise Polko geboren. Sie war eine der erfolgreichsten deutschen Autorinnen des 19. Jahrhunderts
Von Arnd Beise
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Elise Polko, geboren am 31. Januar 1823 auf Wackerbarths Ruh’ (Naundorfer Flur), heute zu Radebeul; gestorben am 15. Mai 1899 in München

Selten sei eine Schriftstellerin »so viel gelesen, geliebt, verehrt und bewundert worden« wie Elise Polko, schrieb 1898 ihre Kollegin Regina Neißer (1848–1923). Selten aber auch ist eine zu Lebzeiten so prominente Autorin so schnell vergessen worden. War sie in den Enzyklopädien um 1900 selbstverständlich noch verzeichnet, gab es in der »Allgemeinen Deutschen Biographie« (Band 53, 1907) selbstverständlich noch einen ausführlichen Artikel über sie, so sucht man sie im aktuellen »Brockhaus« (21. Auflage, 2006) oder in der »Neuen Deutschen Biographie« (Band 20, 2001) vergeblich.

Auch in der germanistischen Literaturwissenschaft kennen die Autorin nur wenige Spezialisten. Dabei hat selten »eine deutsche Schriftstellerin so viel geschaffen«, bemerkte Neißer zurecht. Polkos »Fleiss und ihre Schaffensfreude« seien »fast sprichwörtlich«, behauptete Sophie Pataky (1860–1915) in dem ebenfalls 1898 erschienenen »Lexikon deutscher Frauen der Feder« und verzeichnete über 90 selbständige Publikationen aus 45 Jahren, zu denen nach Redaktionsschluss des Artikels noch ein paar hinzukamen.

Vielfach umstritten

Polkos Fleiß setzte sie in der literaturwissenschaftlichen Zunft dem Verdacht niveauloser Vielschreiberei aus: »Ihre Massenproduktion bekam ihrem kleinen Talent (…) nicht gut. Über das Niveau einer Konsumautorin (…) hat sich (…) Elise Polko nie erhoben« (Gustav Sichelschmidt, 1969). Bei Wächtern des literarischen Kanons kam sie schon mal nicht gut an.

In ihren späteren Jahren wurde sie mitunter als »Lieblingsdichterin der deutschen Frauenwelt« (Verlagsanzeige 1881) beworben, deren Ideologie Lily Braun (1865–1916) in ihren »Memoiren einer Sozialistin« (Band 1) 1909 so auf den Punkt brachte: »der gesitteten höhern Tochter« habe die Autorin »in hundert Variationen stets dasselbe« gepredigt: »der Mann ist deines Lebens Ziel und Zweck«. Das kam bei Feministinnen nicht gut an.

Und dann gab es schon zu Lebzeiten den Vorwurf, Polko gehe mit historischen Tatsachen allzu lax um. Ihre musikhistorischen Novellen machten auf viele Lesende zwar Eindruck, nur »schade, dass sie dabei allemal mit den Historikern in bittern Zwiespalt geräth« (anonyme Rezension über Polkos »Alte Herren« in der Allgemeinen musikalischen Zeitung, 1865). Zu oft enthielten Polkos Texte »die auffallendsten Unwahrheiten« (Leopold von Sonnleithner, 1857). Ihre Feder sei »mehr dem Märchen als Fakten gewidmet« (Lina Ramann, 1880). Das kam in der Wissenschaft nicht gut an.

In der Folge wurde Elise Polko aus dem literaturhistorischen Gedächtnis der Deutschen gestrichen. In den beiden großen Literaturgeschichten der Bundesrepublik (herausgegeben von Helmut de Boor et al.) und der Deutschen Demokratischen Republik (herausgegeben von Hans-Günther Thalheim et al.) taucht ihr Name nicht auf.

Wenn sie ausnahmsweise doch einmal in einer literaturwissenschaftlichen Publikation auftauchte, dann als abschreckendes Beispiel. Als Herausgeberin einer weit verbreiteten Sammlung deutschsprachiger Gedichte des letzten Jahrhunderts – »wer kennt nicht Elise Polko’s ›Dichtergrüße‹, eine der besten lyrischen Anthologien«, fragte ein Nachrufer 1899 rhetorisch – zog sie sich den merkwürdigen Vorwurf zu, »Goethe neben Betty Paoli, Heine neben Luise von Ploennies, Uhland oder Lenau neben Louise Hensel« abgedruckt zu haben (Georg Jäger, 1981), ja sogar grob verfälschend vorgegangen zu sein: Die immer wieder verändert neu aufgelegte Sammlung enthalte in der Ausgabe von 1869 »immerhin 32 Gedichte von Heinrich Heine: sorgfältig ausgewählt und gekürzt, zur Vermeidung alles Anstößigen« (Eva D. Becker, 1996). Schlägt man Heines Gedichte in den »Dichtergrüßen« nach, findet man nichts Anstößiges vermieden, und alle Gedichte sind vollständig, bis auf die »Nachtgedanken« aus den »Neuen Gedichten« (1844), wo die letzten vier Verse fehlen – aus Versehen wohl, denn sie wurden in der Ausgabe von 1874 nachgetragen.

Das Werk von Elise Polko sollte im 21. Jahrhundert noch einmal neu gelesen werden, um zu verstehen, warum die Autorin im 19. Jahrhundert bei manchen als »eine der hervorragendsten Schriftstellerinnen der Neuzeit« (Gustav Othmer, 1870) galt, um dann im 20. Jahrhundert so gründlich vergessen oder gnadenlos verrissen zu werden.

Eine gute Hilfe, was die Fakten ihres Lebens angeht, ist die 2022 erschienene biographische Studie »Mit losgebundenen Flügeln« von Viola Herbst, die erstmals alle erreichbaren Archivalien aufgespürt und ausgewertet hat. Bis über Polkos Tod hinaus waren zum Beispiel die unterschiedlichsten Lebensdaten im Umlauf; als Jahr der Geburt wurden etwa genannt: 1802, 1821, 1822, 1823, 1824, 1826, 1830 und 1832, wobei das zuletzt genannte Jahr wohl eine Mystifikation von Elise Polko selbst ist, die sie sowohl bei der Anmeldung ihres letzten Wohnsitzes angab als auch in der Selbstauskunft für Patakys schon genanntes Lexikon.

Kleiner Singvogel

Tatsächlich wurde sie am 31. Januar 1823 um 10 Uhr auf Schloss Wackerbarth bei Radebeul als erste Tochter des dortigen Schuldirektors Carl Vogel und seiner Frau Amalie Lang geboren und am 5. Februar 1823 auf die Namen Emilie Charlotte Elise getauft.

Seit 1825 lebte die Familie in Krefeld, ab 1832 in Leipzig. Zuhause spielten Musik und Literatur eine bedeutende Rolle, und bei Elise Vogel zeigte sich früh ein besonderes Talent für das Singen. In dieser Hinsicht erwies sich die reiche Leipziger Musikkultur als Glücksfall für das Mädchen. Sie erhielt Unterricht bei August Pohlenz (1790–1843) und Ferdinand Böhme (1805– 872) und gehörte nach 1845 zu dem Kreis um Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847), der die Eltern davon überzeugte, den »kleinen Singvogel« zur Sängerin ausbilden zu lassen.

Ihren ersten öffentlichen Auftritt als Sängerin hatte sie am 18. Oktober 1845 im Leipziger Gewandhaus. In der Presse wurde ihre »Stimme« als »jugendlich frisch, wohltönend und voll«, der »Vortrag« als »lobenswerth« bezeichnet. Spätestens seit 1846 verfolgte die 23jährige die Absicht, »aus dem Dilettanten- in den Künstlerkreis überzugehen«. Tatsächlich trat sie 1847 öfters als Konzertsängerin und sogar auf der Opernbühne auf – in Dresden, Berlin, Frankfurt am Main, Köln – und ging im Dezember 1847 nach Paris, um sich dort von Manuel García (1805–1906) – sie nannte ihn den »größten Singmeister unserer Zeit« – in der Kunst des Gesangs perfektionieren zu lassen. Angeblich trieb sie die Februarrevolution 1848 zurück nach Deutschland. Am 24. Februar 1848 trat Elise Vogel zum letzten Mal bei einem Abonnementskonzert im Leipziger Gewandhaus auf.

Im Juni 1848 heiratete Elise Vogel den Bahningenieur Eduard Polko (1819–1887), den sie entweder auf der Fahrt nach oder von Paris oder im Umkreis ihres letzten Leipziger Konzerts kennengelernt hatte. Zugleich endete ihre Karriere als Sängerin. Angeblich habe sie »aus Familienrücksichten der Bühne und dem Concertsaale« entsagt; was das genau heißen soll, ist unklar. Außer der Rücksicht auf bürgerliche Konventionen könnten auch gesundheitliche Gründe und die zuletzt öfters laut gewordene Kritik an ihrem Talent den Ausschlag gegeben haben.

Jedenfalls war 1848 aus Elise Vogel Elise Polko geworden, und als solche machte sie literarisch Karriere. Schon seit 1847 hatte sie in der Musikzeitschrift Signale wiederholt Erzählungen publiziert, allerdings anonym. Gesammelt und vermehrt kamen diese 1852 auf Vermittlung des Vaters im Leipziger Verlag von Johann Ambrosius Barth heraus: »Musikalische Märchen, Phantasien und Skizzen von Elise Polko«. Der Untertitel »Erste Reihe« zeigte schon an, dass Polko es langfristig auf die neue Karriere als Schriftstellerin angelegt hatte. Das Buch wurde ein großer Erfolg; Pataky verzeichnete 1896 die 23. Auflage.

Gegenüber Adalbert Stifter (1805–1868), dem sie ihr erstes Buch zueignete, gab sie es als »Trostblätter einsamer Stunden« in einer »kleinen, in jeder Hinsicht unerquicklichen Stadt« (gemeint ist Ruhrort bei Duisburg, wo sie seit der Hochzeit lebte) aus. Sie erwähnte, dass Stifters »Studien« ihr liebster literarischer Schatz seien. Stifter reagierte nicht nur geschmeichelt, sondern sehr wertschätzend und empfahl das Buch sogleich seinem Verleger Gustav Heckenast (1811–1878). Er glaubte hier eine verwandte Dichterseele gefunden zu haben, die nichts künstlich mache, sondern »das Vorhandene« einfach »ausgeplaudert« hätte, wie er selbst es auch tue. Er hoffte, sie einmal kennenzulernen, um »vielleicht in ihrem Bildungsgange nicht unnütz zu sein«, denn: »Diese Frau hat alles, was man nicht lernen kann, und hat alles fast nicht, was man lernen kann.«

Auch wenn Polkos und Stifters Literatur letztlich vielleicht doch nicht allzuviel gemein haben, so besteht eine gewisse Ähnlichkeit doch in dem zuweilen offen ausgestellten fragmentarischen Charakter und der autobiographischen Grundierung, die auch Polkos beste Texte auszeichnet. Es sind, wie im Titel des ersten Buchs bereits angedeutet, häufig nur »Skizzen«, also Texte, die den Eindruck einer notizhaften Spontaneität erwecken, »den Reiz des unmittelbar Empfundenen« bewahren sollen, selbst wenn sie sorgfältig ausgearbeitet wurden.

»Vorsätzliche Verzierungen«

Wenn Polko zum Beispiel einen Besuch in dem Atelier der Künstlerfamilie Cauer in Bad Kreuznach beschreibt und dabei verschiedene Statuen falsch zuordnete, so wird das nicht etwa vor der Drucklegung in dem Skizzenblatt »Ein Atelier im Nahetal« (1879) korrigiert, sondern in einer zusätzlichen Anmerkung, in der klargestellt wird, welche Werke von Robert Cauer und welche von Carl Cauer stammen.

Meistens aber stellte Polko in ihren »Phantasien«, in denen sie sich mit historischen Persönlichkeiten befasste, durch keine Anmerkungen klar, was historisch stimmt und was sie erfand. Dass die berühmte Sängerin des ausgehenden 18. Jahrhunderts nicht Francesca Todi hieß, sondern die Vornamen Luísa Rosa trug, schien ihr gleichgültig. Den meisten Leserinnen und Lesern ihrer »Musikalischen Märchen« sei es vermutlich egal, ob alle Daten korrekt seien; es gebe Nachschlagewerke, wo sich die Fakten überprüfen ließen. Im übrigen bekenne sie sich gern zu »vorsätzlichen Verzierungen«, und Fachleute hätten vielleicht ihre Freude am Aufdecken bewusster Anachronismen (»A Letter to the D–«, 1860).

In der Tat wurde die Autorin überwiegend für ihre skizzenhaften Plaudereien bewundert. Der einflussreiche Literaturkritiker und -historiker Rudolf von Gottschall (1823–1909) – in seiner Zunft hatte er die größte Aufmerksamkeit für die seinerzeitige Frauenliteratur – schätzte Polkos Texte: »Die Lieblingsform der Elise Polko ist die Plauderei, es ist ein Streifen, ein Betupfen oft mit leuchtenden Fingern, oft auch in indifferenter Weise« (»Die deutsche Nationallitteratur des neunzehnten Jahrhunderts«, 1881).

In moralischer Hinsicht wurde Polkos Indifferenz ihr aber auch manchmal zum Vorwurf gemacht. Mochte dies in Literatur für Erwachsene noch angehen, so war es in der Kinder- und Jugendliteratur unverzeihlich. Polkos zweites Buch, »Kleine Malereien für die Kinderstube« (1853), das sie für ihren Sohn Carl Heinrich Walter (1850–1882) geschrieben habe, um ihn »vor jenen unzähligen, geist- und phantasielosen Kindergeschichten zu schützen, die jetzt den literarischen Markt überschwemmen«, wie sie wiederum Stifter gestand, diese »Plaudereien, Causerien (…) einer zärtlichen Mutter« also erregten den Zorn einiger Kritiker. »Der müßige Spieltrieb der Phantasie gehört nicht in die Erzählung für Kinder«, meinte 1853 ein Kritiker, und ein anderer mokierte sich darüber, dass Polko in dem Buch »ein Stückchen Feuerbach in die Kinderstube schmuggeln« wolle und führte als Beleg diese Stelle über Gott an: »Auch dich sieht er, aber du musst dir nur nicht etwa einbilden, daß er dich länger und genauer betrachte als ein Käferchen, denn du bist eben nicht mehr; oder daß er dich ganz besonders hüte und bewache, damit du niemals hart auf die Nase fällst, oder sich gar über dich kleinen Wicht ärgere, wenn du einmal ungezogen bist oder dumme Streiche machst: – dazu hat der liebe Gott erstens keine Zeit, wie du wol denken kannst –, zweitens aber müßte er längst krank oder gar weggezogen sein, wenn er sich über all das dumme und häßliche Zeug ärgern wollte, was wir Menschenkinder hier unten zu Wege bringen. Seht zu, wie ihr untereinander fertig werdet! sagt Gott, u.s.w.« Dergleichen Humor sei in einem Kinderbuch unangebracht. Ewald Haufé (1854–1939) zählte Polko 1885 zu jenen Autorinnen, »welche man von der Schriftstellerei für die Jugend abhalten und sie auf andere und nützlichere Wege der Bethätigung verweisen und ihnen ein ›Halt!‹ zurufen muß.«

Aber auch bei Polkos Büchern für Erwachsene hatte manch ein Kritiker Bedenken. Anlässlich des Erscheinens von »Haus-Album: Lose Skizzenblätter« (1870) schimpfte ein Rezensent, dass »die ernste historische Wahrheit doch bei diesen Spielereien zu kurz kommt« und gab – da »junge Damen« wohl »Elise Polko’s Haupt-Lesepublikum bilden« – zu bedenken: »Polko behandelt mit Vorliebe die sogenannte unglückliche, d. h. eigentlich die unerlaubte Liebe und zwar in einer Weise, die man eigentlich (…) als überwundenen Standpunkt bezeichnen kann, nämlich so, als ob es ein unentrinnbares Verhängniß sei, die Frau des Nächsten oder im umgekehrten Falle, den Freund des Mannes lieben zu müssen, ein Verhängniß, das den davon Betroffenen wohl dem Mitleiden, keineswegs aber der Verdammung preiszugeben geeignet« sei.

Frauenbilder

Tatsächlich wäre wohl noch einmal zu überprüfen, ob Polkos Novellen und Erzählungen alle ein so reaktionäres Familien- und Frauenbild aufweisen, das Lily Braun 1909 anprangerte und das nur schon durch den Titel eines der bekanntesten Bücher, das Polko herausbrachte, nämlich des Ratgebers »Unsere Pilgerfahrt von der Kinderstube bis zum eignen Heerd« (1862; 9. Auflage 1892), bestätigt zu werden scheint.

Romantisierender Kitsch ist es jedenfalls nicht, wenn Polko in einem »Musikalischen Märchen« Joseph Haydn nach überwundener, fast tödlicher Krankheit der älteren Tochter seiner Pflegefamilie, Johanna Keller, die Liebe erklärt, sie ihn aber wegen des Gelübdes, »den Schleier« zu nehmen, falls Gott den jungen Musiker überleben lasse, abweist, während die jüngere Schwester Doretta sich in geheimer Liebe zu Haydn verzehrt und kurz davorsteht, deswegen Suizid zu begehen. »Wenige Monden später wurde im Kloster der heiligen Ursula eine junge schöne Nonne eingekleidet, die den Namen Maria erhielt, und zwei Tage darauf feierte der Musikdirector Joseph Haydn seine stille Hochzeit mit Doretta Keller.« Damit ist die Erzählung aber nicht zu Ende, sondern es wird noch geschildert, dass Johanna dem Musiker ihre Schwester ans Herz legte und mit ihm ein Treffen ein Jahr später am Sprachgitter des Klosters vereinbarte: »Sage mir kein Wort, sieh mich nur still an, und wenn Du glücklich bist mit Deinem Weibe, so trage ein frisches Sträußlein in der Hand! bist Du’s aber nicht, Joseph, lieber, lieber Joseph! nun dann zeige mir die welken Reste dieser weißen, jetzt so schönen Rosenknospe, die ich Dir hier scheidend reiche.« Nach einem Jahr erscheint Haydn am Sprachgitter des Klosters, weist einer kaum noch als Johanna erkennbaren, geknickten Gestalt eine verdorrte Rosenknospe, worauf beide stumm und für immer Abschied nehmen. Die junge Nonne stirbt kurz darauf, und der Komponist lebte »mitten in der unerquickten Oede einer unglücklichen kinderlosen Ehe« und schuf trotzdem noch bis ins hohe Alter »zaubervolle« Kompositionen.

Abgründig ist die Erzählung »Violetta« aus demselben Band. Nach dem Motto »Ein Veilchen auf der Wiese stand, / Gebückt in sich und unbekannt, / Es war ein herzigs Veilchen«, das das bildungsbürgerliche Lesepublikum natürlich sofort als Bruchstück eines Goethe-Gedichts erkannte, folgt die Geschichte von einem verwitweten Dorfkantor und seiner gerade flügge gewordenen Tochter Violetta, die eines Sommers Besuch erhalten von einem »kindlich fröhlichen, einfachen Menschen«, der sich als »Musikstudent« aus Wien ausgibt, immer wieder kommt, mit dem Kantor über Bach und den abgöttisch verehrten Haydn »schwatzt« und mit Violetta alte Weisen singt. Einmal bleibt er jedoch länger aus, nachdem er Mozarts »Don Juan« in der Oper sehen wollte. Bei seinem nächsten Besuch bringt er als Entschädigung eine kleine Komposition mit: »Violetta erhielt ein zierliches Blättchen mit der Aufschrift: ›An mein Veilchen.‹ Es war ein Liedchen, dessen Anfangsworte lauten: ›Ein Veilchen auf der Wiese stand.‹ Das Mädchen jubelte; der alte Mann aber durchwanderte still mit seinen ernsten Augen alle Blätter« und wies ihnen einen Ehrenplatz zwischen den Partituren von Bach und Händel an. Der junge Mann hatte noch einen Besucher mitgebracht: »Vater Haydn«, den noch einmal im Leben zu treffen der größte Wunsch des alten Kantors war. Der junge Mann war natürlich Mozart selbst. Inzwischen sind indes alle tot, der Kantor, Haydn und auch Mozart. Violetta aber heiratete nie und »lebt ein Traumleben in ihren Erinnerungen. Wenn Ihr sie aber besuchen wollt, so mögt Ihr sie nur nach dem Meister Mozart fragen: dann beleben sich ihre Augen und (…) zuletzt (…) zeigt sie Euch vielleicht ein kleines, ach, sehr vergilbtes Notenblättchen, worauf mit flüchtiger Hand geschrieben steht: ›Ein Veilchen auf der Wiese stand.‹«

Polko gibt hier also eine Phantasie über die Entstehung von Mozarts Lied »Das Veilchen« (KV 476), das im übrigen zwei Jahre vor der Wiener Erstaufführung von »Don Giovanni« geschrieben wurde. Sie spielte mit der im Publikum vorausgesetzten Textkenntnis. In Goethes Gedicht von 1774 träumt das Veilchen davon, von einer auf die Wiese eilenden Schäferin gepflückt und an ihren Busen gedrückt zu werden. Doch die »junge Schäferin« achtet der Blume nicht und »ertrat das arme Veilchen. Es sank und starb, und freut’ sich noch: / (…) sterb’ ich doch durch sie, durch sie«.

Dass das Lied auch für Polko selbst eine besondere Bedeutung hatte, erfahren wir aus einem ihrer letzten Bücher, »Bedeutende Menschen: Portraitskizzen, Lebenserinnerungen und Novellen« (1895). Polko erzählte hier, dass sie »als Schülerin Garcia’s« eines Abends in Paris 1848 »einem seltsam steifen, eingeschnürten, mit Orden bedeckten alten Herrn vorgeführt wurde. Er machte mir damals den Eindruck einer Mumie.« Wie sich herausstellt, handelt es sich um den alten Gaspare Spontini (1774–1851), der der 25jährigen Gesangsschülerin die Geschichte seines von Mozart geerbten Rings erzählt und sie dann um das »Goethe-Mozart-Lied vom Veilchen« bittet. »Während ich nun sang und er eifrig zuzuhören schien, flog es über das verwitterte Antlitz wie ein Schimmer von jenem Frühlingsmorgen, an dem die junge Schäferin: ›mit leichtem Schritt und munt’rem Sinn‹ über die Wiese kam und sang. – Aber zum Weinen war es doch, als nach dem Sterbeseufzer des ›herzigen‹ Veilchens jene kalte Hand mit zitternder Liebkosung über mein Haar strich und meine Wange berührte und die müde Stimme mir wieder und wieder dankte.«

Natürlich findet sich Goethes Gedicht »Das Veilchen« von der ersten bis zur letzten von ihr betreuten Auflage auch in der Anthologie »Dichtergrüße: Neuere deutsche Lyrik ausgewählt von Elise Polko«.

Vorwärts kommen

Elise Polko publizierte annähernd hundert Bücher: Skizzen und Phantasien, Novellen, Romane, Kinder- und Jugenderzählungen, Biographien, Ratgeber und Anthologien. Wahrscheinlich hatte sie einen ähnlichen Anspruch an sich wie die junge Protagonistin einer ihrer Novellen, die zu ihrem Mann sagt: »wenn ich den ganzen Tag in der Küche stehen oder Dir Deine Hemdenknöpfe annähen oder Staub abwischen wollte, der am andern Tage gerade wieder so daliegt, wer giebt mir Etwas dafür? Ich will eine Arbeit, an der ich sehe, daß man vorwärts kommt, bei der ich Geld oder Lob verdiene, sonst ist’s Nichts damit.«

Eduard Polko hinderte seine Frau nicht daran, ihre literarischen Ambitionen zu entwickeln, auch wenn er als »Techniker« andere Neigungen hatte. »Mann und Frau sind sehr verschieden: er der stramme, kluge Geschäftsmann, der am liebsten über öffentliche Dinge spricht, sie ganz in dem Interesse für Musik und Poesie aufgehend. Zwischen beiden ein vierzehnjähriger, netter Junge«, notierte sich der seinerzeit auf dem literarischen Markt nicht ganz so erfolgreiche Jurist und Schriftsteller Theodor Storm (1817–1888), der die Polkos in Minden besuchte, wo sie von 1852 bis 1876 lebten.

Polko thematisierte in ihrem Roman »Sie schreibt!« (1869) die Probleme einer literarisch wirken wollenden Ehefrau, spießte die bürgerlichen Vorurteile ironisch auf und versuchte aufzuzeigen, dass sich Ehe, Mutterschaft, Haushaltsführung und Autorinnenschaft für Frauen problemlos vereinbaren lassen, wenn der Mann mitzieht. War das Mitte des 19. Jahrhunderts reaktionär? Oder nicht eher ein attraktives Identifikationsangebot für Frauen, die mehr wollten, als nur im Haushalt tätig zu sein?

Polko zog mit Mann und Kind nach Wetzlar (1876–1880) und später mit dem zum Eisenbahndirektor avancierten Gatten nach Köln-Deutz (1880–1887). Fünf Monate pflegte sie 1882 den wegen einer unheilbaren Krankheit wieder ins Elternhaus zurückgekehrten Sohn Walter; rund viereinhalb Jahre später starb überraschend ihr Mann, was sie in finanzielle Schwierigkeiten stürzte, da er bei der Verstaatlichung seiner Eisenbahngesellschaft eine risikoreiche Vertragsvariante gewählt hatte, die sie bei seinem vorzeitigen Tod nahezu versorgungslos zurückließ.

Durchsetzungsfähig

Mittellos war Elise Polko trotzdem nicht. Aber es war auch für eine der erfolgreichsten Autorinnen des 19. Jahrhunderts nach dem Tod ihres Mannes und dem Wegfall seines Gehalts nicht ganz einfach, den gewohnten Lebensstandard aufrechtzuerhalten, der für sie und ihre »langjährige, treue Dienerin« und Köchin Hermine »Minna« Schleifenbaum mindestens eine Siebenzimmerwohnung erforderte.

Dass es Elise Polko gelang, trotz mehrfach abgelehnter Unterstützungsanträge bei der Schiller-Stiftung, ihren Zwei-Frauen-Haushalt über Hannover (1887–1889), Wiesbaden (1889–1895), Frankfurt am Main (1895–1898) nach München (1898–1899) zu retten, spricht für ihre Geschäftstüchtigkeit. Auch dass nach ihrem Tod »ein ziemlich umfangreiches Rücklassmobiliar« versteigert wurde, spricht gegen tatsächliche Not.

Als Elise Polko im Sommer 1898 in Schliersee so schwer stürzte, dass sie am 15. Mai 1899 an den Folgen dieses Unfalls starb, war sie vielleicht nicht mehr die anerkannteste Schriftstellerin, doch immer noch eine der erfolgreichsten Autorinnen des 19. Jahrhunderts, deren Werke auch heute noch eine durchaus lohnende Lektüre sein können.

Arnd Beise ist Professor für Germanistik an der schweizerischen Universität Freiburg. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 14. September 2022 über Martin Luthers Übersetzung des Neuen Testaments.

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