junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Mittwoch, 29. März 2023, Nr. 75
Die junge Welt wird von 2701 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 27.01.2023, Seite 11 / Feuilleton
Hans Modrow 95

Wo Fidel recht hatte

Wahrhaftigkeit im Irrtum: Hans Modrow zum 95. Geburtstag
Von Volker Hermsdorf
11.jpg
Beginn einer Freundschaft: Hans Modrow (r.) besucht 1970 erstmals Kuba

Der oft inflationär verwendete Begriff vom »politischen Urgestein« trifft derzeit auf kaum eine Person der deutschen Politik zu. Für Hans Modrow, den letzten von der Volkskammer gewählten Ministerpräsidenten der DDR, ist das Attribut gerechtfertigt. Allerdings wird damit nicht annähernd die Bedeutung, der historische Erfahrungsschatz und das teilweise auch widersprüchliche Wirken eines Vollblutpolitikers beschrieben, der nach dem Ende der DDR unter anderem als Abgeordneter des Deutschen Bundestages, des Europaparlaments und langjähriger Vorsitzender des Ältestenrats der Partei Die Linke aktiv blieb. Hans Modrow ist jemand, der sich und seiner Überzeugung, trotz mancher Irrtümer und Fehlentscheidungen, treu geblieben ist. Im selben Jahr geboren wie Ernesto Che Guevara, begeht er am Freitag seinen 95. Geburtstag.

Die Augen geöffnet

2014 konnte ich Hans Modrow in Havanna interviewen, als er dem Institut für Völkerfreundschaft den Nachlass von Ches Kampfgefährtin Tamara Bunke übergab, und erkannte dabei, dass er wohl der deutsche Politiker mit den längsten und umfangreichsten Kuba-Erfahrungen ist. Während die BRD 1963 die diplomatischen Beziehungen zum sozialistischen Karibikstaat abgebrochen hatte, vertrat Modrow die DDR 1970 auf der Kundgebung zum Nationalfeiertag am 26. Juli in Havanna. Seitdem ist er als DDR-Politiker immer wieder auf die Insel gereist und initiierte später als Bundestags- und Europaabgeordneter zahlreiche Unterstützungskampagnen. Im Oktober 1993 lud Fidel Castro ihn zu einem langen nächtlichen Gespräch über den Niedergang der sozialistischen Staaten Osteuropas und der Sowjetunion ein. 2019 wurde Hans Modrow mit dem Orden der Solidarität der Republik Kuba ausgezeichnet.

Neben dem kubanischen ist Modrow seit seiner Jugend vor allem dem russischen Volk verbunden. Am 27. Januar 1928 in dem nördlich vom damaligen Stettin gelegenen Ort Jasenitz geboren, »war ich am Tag der Befreiung vom Faschismus, dem 8. Mai 1945, noch von der braunen Demagogie infiziert«, erinnerte er sich. In sowjetischer Gefangenschaft begann er die Nazipropaganda, die Russen als blutrünstige »Untermenschen« dargestellt und den Krieg gegen die Sowjetunion verherrlicht hatte, zu durchschauen. Es habe ihn nachdenklich gemacht, dass Wehrmachtsoffiziere den jungen Mitgefangenen weiter vorschreiben wollten, was sie zu denken und zu tun hätten. »Selbst im gleichen Schicksal waren wir nicht gleich. Die wollten immer noch die Herren spielen. Die Rotarmisten gingen menschlicher mit uns um als die vermeintlichen eigenen Kameraden«, sagte er.

Zur Entwicklung seines politischen Bewusstseins trugen weitere spätere Eindrücke bei. Einer davon war, dass er bei Besuchen in Westberlin registrierte, wie dort an Kiosken »Landser-Hefte« aushingen, die wieder ganz offen Krieg und Gewalt propagierten, während in der DDR antifaschistische Autorinnen und Autoren wie Anna Seghers für den Frieden warben. Als Konsequenz solcher Erfahrungen schloss sich der gelernte Maschinenschlosser der FDJ an und wurde später Mitglied des FDGB und der SED. Modrow besuchte die Komsomol-Hochschule in Moskau, schloss ein Fernstudium an der Karl-Marx-Hochschule der SED mit dem Diplom in Marxismus-Leninismus ab und promovierte nach einem weiteren Studium an der Humboldt-Universität 1966 zum Doktor der Wirtschaftswissenschaften. Seit 1958 war Modrow Abgeordneter der Volkskammer. In der SED wurde er zunächst Sekretär der Bezirksleitung Berlin, später Abteilungsleiter im Zentralkomitee und Erster Sekretär der Bezirksleitung Dresden.

Einen seiner fatalsten Irrtümer gesteht Modrow selbstkritisch ein. Anders als Castro, der Michail Gorbatschow frühzeitig durchschaute und vor der Perestroika als den »Prinzipien des Sozialismus entgegengesetzt« warnte, hatte Modrow sich im letzten Staatspräsidenten der Sowjetunion zunächst getäuscht. »Aber nach dem, was mir heute bekannt ist, bin ich mit nichts von dem einverstanden, was Gorbatschow in die Wege geleitet hat, denn alles war von Anfang an auf Täuschung angelegt«, korrigierte er später seinen Irrtum. Zwar steht er zu seiner Entscheidung, die in der DDR-Verfassung definierte sozialistische Gesellschaftsordnung nicht mit der Armee verteidigt zu haben, erklärte aber auch: »Welche Urteile es auch immer über den realen Sozialismus gibt, er hat den brutalsten Formen kapitalistischer Ausbeutung und imperialistischer Kriege Grenzen gesetzt.«

Auf Distanz

Nach dem Anschluss erlitt Modrow das Schicksal vieler DDR-Politiker, die sich nicht opportunistisch gewendet hatten: Verfolgung, Anklage und Strafrente. Er erfuhr, dass er sechs Jahrzehnte lang vom Bundesnachrichtendienst und vom Verfassungsschutz ausspioniert worden war. Eine vollständige Akteneinsicht wird ihm jedoch verweigert. Als Modrow am 23. Februar vorigen Jahres zum »Tag des Vaterlandsverteidigers« am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Tiergarten die bei der Befreiung Europas gefallenen Rotarmisten mit einem Blumengebinde ehrte, reagierten russophobe Politiker und Medien mit einer Hetzkampagne. Mit dem unwürdigen Akt der Neuberufung des Ältestenrats ging auch die Spitze der Partei Die Linke auf Distanz zu ihrem unbequemen, aber stets loyalen langjährigen Mitglied. Hans Modrow parierte die Attacken mit einem Zitat: »Sagen, was ist – Rosa Luxemburgs Aufforderung zu Realismus und Wahrhaftigkeit hat mich in meiner politischen Tätigkeit immer geleitet.«

Anstelle von Glückwunschanzeigen und Geschenken zum 95. Geburtstag bittet Hans Modrow um Spenden für die Schule »Tamara Bunke« in Mayabeque (Kuba) – Spendenkonto: Evelin Nowitzki, IBAN: DE03 1005 0000 1073 0478 53, Kennwort: Hans.

Drei Wochen kostenlos lesen

Wir sollten uns mal kennenlernen: Die Tageszeitung junge Welt berichtet anders als die meisten Medien. Sie bezieht eine aufklärerische Position ohne Besserwisserei und wirkt durch Argumente, Qualität, Unterhaltsamkeit und Biss.

Testen Sie jetzt die junge Welt drei Wochen lang (im europäischen Ausland zwei Wochen) kostenlos. Danach ist Schluss, das Probeabo endet automatisch.

  • Leserbrief von Doris Prato (31. Januar 2023 um 15:34 Uhr)
    Mit recht erinnert Volker Hermsdorf an Hans Modrows Engagement für Kuba, das nicht vergessen werden soll. Und auch, dass er seine Haltung zu Gorbatschow, wenn auch sehr spät, korrigiert hat. Aber es ist eben so, dass Gorbatschow Modrows Haltung als Regierungschef (seit November 1989 bis April 1990) entscheidend beeinflusste. Denn nach Gesprächen mit ihm am 1. Februar 1990 in Moskau unterbreitete Modrow sein Konzept »Deutschland einig Vaterland«, mit dem faktisch die DDR zur Disposition gestellt wurde. Gorbatschows engster Vertrauter, Politbüromitglied Jakowlew hatte dazu die Linie vorgegeben: »Es wäre gut, wenn Modrow mit einem Programm der Wiedervereinigung auftreten würde.« Modrow selbst beanspruchte dazu später: »Kohl behauptet, er habe den Schlüssel zur Einheit aus Moskaus geholt. Wenn das so sein soll, dann habe ich den Schlüssel gefeilt!« (nachzulesen in: »Keine Zeit für Illusionen«. Karl-Heinz Arnold: Mit Hans Modrow erlebt: das vorletzte Kapitel der DDR-Geschichte. Wochenpost, Nr. 38/1990). Sicher war es so, dass die DDR, nachdem sie von Gorbatschow fallengelassen wurde und damit der wichtigste außen- und militärpolitische Faktor ihrer Existenzsicherung entfallen war, nicht mehr zu retten war. Doch ihr Anschluss an die BRD hätte nicht in jene kampf- und bedingungslose Kapitulation münden müssen, die von der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maiziére von der ostdeutschen CDU vollzogen wurde, aber bereits unter der Regierung Modrow und der PDS unter Gregor Gysi zu verantworten war. Denn in seinem Buch »Aufbruch und Ende« sah er Gorbatschow als einen Menschen, »der wirklich in großen Maßstäben denkt, der ein sehr komplexes Denken hat«. Gerd König, der letzte DDR-Botschafter in Moskau, erkannte dagegen schon, dass Gorbatschow Besorgnis, wie es mit der DDR weitergehe, geheuchelt war, während in Wirklichkeit der Vereinigungsprozess »bereits im vollen Gange und die Vereinigung faktisch entschieden war« (»Erinnerungen des letzten DDR-Botschafters in Moskau. Fiasko eines Bruderbundes«. Berlin 2010, S. 408). Und aus Königs Erinnerungen geht hervor, dass er das bei Modrow zur Sprache brachte.
    Man kann auch nicht darüber hinwegsehen, dass er, wenn auch mit Vorbehalten, den opportunistischen Weg von der SED zur PDS und zur heutigen Partei Die Linke im Grunde mitmachte, ihr im Ältestenrat ein linkes Feigenblatt verschaffte. Der Mut, sich als Kommunist zu bekennen und der DKP anzuschließen, wie der langjährige Verteidigungsminister der DDR, Generaloberst Heinz Kessler, fehlte ihm, selbst der KPF in der Linkspartei blieb er fern, da gefiel er sich lieber in der Rolle des Elder Statesman mit Reisen ins Ausland, sicher bezog er da Positionen für Frieden und Völkerverständigung, aber auch das ging und geht nie über diesen Rahmen hinaus.

Ähnliche:

  • Instrumentalisiert, vereinnahmt, Mythen gestrickt? Die Gedenkstä...
    22.12.2022

    Entgratete Helden

    Vor 80 Jahren wurden die ersten Widerstandskämpfer der »Roten Kapelle« hingerichtet. Bis heute wird ihre Geschichte verfälscht
  • »Produktiv, pro DDR«, so hieß es am 25.2.1990 auf einem Transpar...
    10.01.2020

    Vorhersehbarer Verrat

    Schon Ende 1989 zeichnete sich ab, dass die Sowjetunion die DDR fallen lassen würde. Dennoch vertraute die DDR-Regierung Michail Gorbatschow.

Mehr aus: Feuilleton

Drei Wochen lang gratis gedruckte junge Welt lesen: Das Probeabo endet automatisch, muss nicht abbestellt werden.