Wissing auf der Bremse
Von Ralf Wurzbacher
Verspätungen bei der Bahn kennt man ja. Warum sollte es mit der Einführung des 49-Euro-Tarifs anders laufen? Medienberichten zufolge könnte sich der Starttermin für das geplante sogenannte Deutschland-Ticket auf unbestimmte Zeit verschieben. War anfangs noch vage vom Frühjahr die Rede, dann konkreter vom 1. April, droht nun auch das zuletzt von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) genannte Auftaktdatum 1. Mai zu kippen. Knapp drei Monate davor ist offenbar nicht einmal geklärt, wer eigentlich die Umsetzung erledigen soll: der Bund oder die für den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zuständigen Länder. Fraglich ist zudem, ob es das Angebot nur in digitaler oder auch in Papierform geben wird.
Für Kopfschütteln sorgt die Hängepartie beim Bahnexperten Winfried Wolf. Im Sommer habe es mit dem Erfolg des Neun-Euro-Tickets einen »echten Drive hin zur Schiene« gegeben, »kombiniert mit dem notwendigen Tempolimit auf Autobahnen hätte das eine Verlagerung von Verkehr auf die Schiene gebracht«, bemerkte er am Dienstag gegenüber junge Welt. Statt dessen sei ein zu hoher Preis für das Nachfolgeangebot vereinbart worden, und auch das Chaos mit unterschiedlichen Ländertarifen und föderalen Zuständigkeiten bleibe bestehen. »Und jetzt wird auch noch die Zeit bis zum Start immer mehr gestreckt und der Bürger mit sinnlosem Gerede von der digitalen Schiene zugetextet«, betonte Wolf.
»Für mich steht fest – nicht später als der 1. Mai«, ließ sich Wissing noch kürzlich zitieren. Demnach solle der Verkauf des Tickets am 3. April beginnen, genutzt werden könnte es dann erstmals einen knappen Monat später. Zweifel äußerte am Wochenende die Bremer Verkehrssenatorin Maike Schaefer (Bündnis 90/Die Grünen), die bis Ende 2022 der Verkehrsministerkonferenz vorstand. »Wenn die Gespräche und Verhandlungen weiter so schleppend verlaufen wie in dem gestrigen Arbeitstreffen zwischen Bund und Ländern, sehe ich schwarz für einen zeitnahen Start.« Damit bezog sie sich auf eine Sitzung vom vergangenen Freitag, in der bestehende Differenzen nicht ausgeräumt werden konnten. Offenbar ist selbst die Finanzierungsfrage nicht endgültig geklärt. Laut Beschluss von Ende November hat der Bund die sogenannten Regionalisierungsmittel für den Schienenpersonennahverkehr um eine Milliarde Euro für 2022 aufgestockt, um sie dann ab 2023 schrittweise zu erhöhen. Nun forderte Schaefer im Namen ihrer Länderkollegen zusätzlich 1,5 Milliarden Euro zwecks Einhaltung der Klimaziele im Verkehrssektor.
Auf Unverständnis stößt ferner Wissings Marschroute, das Ticket nur App-basiert oder als Chipkarte vertreiben zu wollen. Das diene dem Ziel, anonymisierte Daten über das Nutzungsverhalten der Kunden zu sammeln und Aufschluss über die Auslastung von Bussen und Bahnen zu gewinnen, heißt es. Dagegen dringen die Länder darauf, zumindest übergangsweise auf Papierfahrkarten zu setzen, weil nicht jeder über ein Smartphone verfügt und so vor allem ältere Menschen sowie Kinder ausgeschlossen würden. Probleme sehen Kritiker auch mit Blick auf kleinere Bus- und Bahnbetreiber, die die Umstellung auf digitale Tickets nicht schnell genug bewältigen könnten. Auf Unmut stößt ebenso der Preis von 49 Euro, der aus Sicht von Wohlfahrtsverbänden und Verbraucherschützern viele potentielle Abnehmer überfordert. Tatsächlich planen einzelne Bundesländer, das »Deutschland-Ticket« für Geringverdiener oder junge Menschen günstiger zu offerieren.
Am Dienstag wies der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) in seiner Jahrespressekonferenz auf weitere »Vorarbeiten und politische Beschlüsse« hin. So fehlte noch die Rückmeldung der EU-Kommission zur beihilferechtlichen Prüfung des Vorhabens, eine bundesweite Tarifgenehmigung sowie die Anpassung des Regionalisierungsgesetzes zur »Finanzierung und Sicherung der Liquidität der Branche«. Der Ball liege diesbezüglich beim Bundesverkehrsministerium, meinte VDV-Präsident Ingo Wortmann, der bekräftigte: »Aus unserer Sicht kann es am 1. Mai losgehen.«
Carl Waßmuth vom Bündnis »Bahn für alle« ist nicht überzeugt. Die hohe Akzeptanz des Neun-Euro-Tickets habe die Politik in Verlegenheit gebracht, sagte er am Dienstag dieser Zeitung. »Aber Wissing will wohl doch keine attraktiven Angebote für die Schiene machen.« Bei allem, was notwendig wäre, bleibe er untätig: beim Ausbau der Infrastruktur, der Beschaffung von Wagen und beim Personal. »Und beim Deutschland-Ticket bremst und verkompliziert er, wo er nur kann«. Waßmuths Urteil: »So wird das nichts.«
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(1) https://www.change.org/p/49-euro-ticket-in-papierform-und-gegen-barzahlung