Tomatenwurf
Von Helmut Höge
Als ich Anfang 1969 nach Westberlin zog, waren meine Mentoren im SDS Ines Lehmann und Thomas Bachmann. Sie wohnten in einer Charlottenburger WG, in der jeden Nachmittag Ruhe herrschte, weil jeder irgend etwas Theoretisches las. Thomas Bachmann ist 2022 gestorben, Ines Lehmann ist Taxiunternehmerin und Übersetzerin, wie ich 1998 einem Taz-Bericht über eine Veranstaltung an der Freien Universität zur Erinnerung an den »30. Jahrestag des Tomatenwurfs« entnommen habe. Sie war 1968 gegen den Auszug der Frauen aus dem SDS gewesen, der mit einem Tomatenwurf eingeleitet wurde. Ines Lehmann meint nun: »Ich würde heute wieder so handeln: Ich konnte mir damals ein Leben ohne den SDS nicht vorstellen.« 1974 traf ich sie kurz in Lissabon, wo sie sich in der »Nelkenrevolution« exponierte. Später bekam ich mehrere dicke Bände von ihr: Sie war vielsprachig und hatte darin Presseartikel aus vielen Ländern über das portugiesische Ereignis ausgewertet.
Auf der »68erinnen-Gala der Reflexion« an der FU erfuhr man: »Die Tomatenwerferin Sigrid Damm-Rüger ist tot. An ihrer Stelle sprach ihre Tochter Dorothee. Sie, die Tochter, habe die Bedeutung des Tomatenwurfs erst auf der Beerdigung der Mutter begriffen, als Frauen einen Kranz mit Tomaten niedergelegt hätten.«
2008 polemisiert Ines Lehmann, die zu der Zeit wieder in Lissabon lebt, auf der SDS-Webseite »mit wachsendem Zorn, ja mit Empörung«, gegen »die in diesem Jahr besonders lauten Verlautbarungen von ›68er‹-ProtagonistInnen.« Sie nennt Namen: »Nachdem dem Nazi Horst Mahler und dem nazinahen Bernd Rabehl in den Medien jetzt nicht mehr so viel Raum für ihre 68er-Geschichtsinterpretationen eingeräumt wird wie früher, treten nun andere Herrschaften in die so freigewordenen Fußstapfen. Wenn mann (sic, jW) schon den Kampf ›für die Sache‹ – das heißt: die außerparlamentarische Opposition, ihren Einsatz für eine andere Politik und Gesellschaft – verloren hat, so will mann (sic, jW) nun wenigstens noch den Kampf um ihre Interpretation gewinnen, um so noch in die Geschichte eingehen zu können …«
Vor allen anderen ärgern Ines Lehmann jene Altlinken, »die ›Kraft ihres Wortes‹ ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, also medienabhängige Herrschaften wie der Schriftsteller Peter Schneider, der Taz-Journalist Christian Semler und so weiter, aber auch verrentete SPD-Journalisten wie Tilman Fichter.«
Die Autorin holt weit aus: »Wie haben wir unsere Eltern, Lehrer, Professoren an den Pranger gestellt, sie wegen ihrer uns beziehungsweise sich selbst verschwiegenen, mehr oder weniger großen Nähe zum Nationalsozialismus angeklagt, sie verlassen, uns von ihnen getrennt und so weiter! Und nun das!«
Dem inzwischen verstorbenen Semler wirft sie vor, über die Gründung seiner maoistischen »KPD/AO« (Aufbauorganisation) 1970 nur »larmoyant zu plaudern« statt »selbstkritische Reflexion« zu betreiben. Über Fichter, der in die SPD eintrat, »die damals unser schärfster Gegner war und deren ›Berufsverbotepolitik‹ zig GenossInnen in ein gesellschaftliches und politisches Abseits bugsierte«, schreibt sie: Er »schwadroniert heute immer wieder über ein Nichtvorhandensein einer Frauenbewegung im SDS. Dabei waren es gerade die Frauen im sogenannten antiautoritären SDS, eben jene emanzipatorischen Kräfte, die diese männerbündische Eliteeinheit der studentischen Intelligenz ›von sich selbst‹ befreit haben!«
Zwei Monate nach dem Tomatenwurf sprengte der Frankfurter »Weiberrat« die letzte Delegiertenkonferenz: »(D)anach war es dann aus mit dem SDS, dem entscheidenden Motor von ›68‹. Leider habe ich an diesen Aufständen nicht teilgenommen, weil mir das Schicksal des SDS, mit dem ich mich damals völlig kritiklos identifizierte, wichtiger war als der Befreiungskampf der Frauen.«
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