Furcht vor der Zukunft
Von Hansgeorg Hermann
Die griechische Rechtsregierung hat pünktlich zu den kommenden Wahlen ein Geschenk für die Ärmsten: Ab März dieses Jahres soll der Mindestlohn von 713 auf rund 780 Euro angehoben werden. Denn die von den Finanzinstitutionen hart gebeutelten Griechen blicken gerade in eine von Furcht vor Armut und sozialem Abstieg geprägte Zukunft, wie das von den europäischen Institutionen unterhaltene »Eurobarometer« in der vergangenen Woche meldete.
Während der Finanzkrise war die Bevölkerung an der Ägäis von elf auf rund 10,5 Millionen Menschen geschrumpft. Das erklärt sich hauptsächlich mit der Flucht von mehr als einer halben Million junger Menschen, die in ihrer Heimat keine Zukunft mehr sahen. Die EU-Kommission, die EU-Zentralbank sowie der Internationale Währungsfonds (IWF), die sogenannte Troika, hatten die Griechen zu drastischen Kürzungen der Löhne und Renten sowie zum billigen Verkauf ihrer Staatsbetriebe, riesiger Flächen staatlichen Grundbesitzes und existentieller Infrastruktur gezwungen. Der im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie Deutschland ohnehin kärgliche Mindestlohn war seit 2001 zwar von 465 auf 751 Euro im Jahr 2012 gestiegen, 2013 aber – den Forderungen der »Troika« folgend – auf 586 Euro gekürzt worden. Für Lohnabhängige unter 25 Jahren betrug er nur noch 510 Euro.
Bei einer aktuellen Inflationsrate von etwas mehr als neun Prozent fängt die vom rechten Regierungschef Kyriakos Mitsotakis versprochene Anhebung des Minimaleinkommens lediglich die Geldentwertung auf. Teuerungsraten vor allem im Energiesektor von 15 bis 25 Prozent haben die Kaufkraft der Bevölkerung beschnitten. Während auch die Mietpreise unkontrolliert in die Höhe schossen und Wohnungen in Großstädten wie Athen, Thessaloniki oder Heraklion vor allem für junge Menschen unbezahlbar wurden, beschränkte sich der Verbrauch in den Haushalten auf ein Minimum.
Tausende konnten in den vergangenen Jahren Bankkredite, die sie während der besseren Jahre aufgenommen hatten, nicht mehr bedienen und verloren ihre Häuser. Die griechischen Geldinstitute, die von Ökonomen von Beginn an für den wirtschaftlichen und sozialen Niedergang des Landes verantwortlich gemacht wurden, versteigern bis heute Eigenheime im Internet. Profiteure sind internationale Immobilienhändler, die in den vergangenen zwei Jahren allein an deutsche Kunden rund 250.000 Wohnungen und Eigenheime verscherbelt haben. Zwar hat die Immobilienblase in den ersten sechs Monaten des vergangenen Jahres ausländische Investitionen im Wert von rund 800 Millionen Euro in den griechischen Markt gepumpt. An der großen Mehrheit der Bevölkerung rauscht der Geldsegen allerdings vorbei.
Statt dessen wächst die Angst der Griechen vor Armut und sozialem Abstieg. Laut »Eurobarometer« erklärten Ende 2022 rund 86 Prozent der Menschen an der Ägäis, dass sie ihre monatlichen Rechnungen nicht mehr pünktlich bezahlen könnten. Große Versorger wie die halbstaatliche Elektrizitätsgesellschaft DEI haben sich dem Druck vor allem der linken Parlamentsopposition gebeugt und Ratenzahlungen zugelassen. Gefragt nach den Ursachen der Krise, gaben 87 Prozent der Griechen an – gegenüber 46 Prozent im europäischen Durchschnitt –, dass sie in der Coronaepidemie sowie in den Maßnahmen gegen Russland wegen des Ukraine-Kriegs zu finden seien.
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