Raus aus der Tonne
Von Christina Mohr
»Does it frighten you that I’m still driving?« fragt Billy Nomates in »Balance Is Gone«, dem Opener ihres neuen Albums »Cacti«. Trotz der Power, die der Song ab der ersten Sekunde verbreitet, schimmern in Nomates’ Worten Verwunderung und ein bisschen Furcht vor der eigenen Courage durch: War es wirklich eine gute Idee, betrunken Auto zu fahren? Oder, übertragen aufs Musikmachen, kann ich das wirklich? Auch wenn Billy Nomates auf der Bühne enorm extrovertiert rüberkommt, ist die in Bristol lebende Künstlerin eine scheue, von Selbstzweifeln geplagte Person.
Tor Maries (Billys bürgerlicher Name), in Leicester geboren und mit ihrem alleinerziehenden Vater aufgewachsen, war ein freakiger Teenager mit Lernschwierigkeiten, die Plattensammlung des musizierenden Vaters ihr (Über-)Lebenselixier und Auslöser des Wunsches, selbst Songs zu schreiben. Jahrelang zog Maries mit glücklosen Bandprojekten herum, bis sie frustriert beschloss, die Musik an den Nagel zu hängen und sich mit »normalen« Jobs durchzuschlagen. Zum Beispiel arbeitete sie in der Marketingabteilung einer Hochschule, was sie gar nicht übel fand.
Eine Karriere als Musikerin war längst abgehakt, bis ein Konzert der Sleaford Mods alles ändert. Sie geht allein hin – von diesem Abend stammt auch ihr Künstlerinnenname, ein besoffener Konzertbesucher schmäht sie als »Billy No Mates« – und entflammt wieder. Das will sie auch machen: Sprechgesang zu maximal minimalistischer Musik. Mutig schickt sie Demos an die Mods, die sie sofort unterstützen. Jason Williamsons Gattin Claire Herron managt Billy fortan, bringt sie bei Geoff Barrows Label Invada unter.
Billy Nomates’ Debütalbum mit dem feministisch-programmatischen Hit »No« erscheint 2020, mitten im ersten Pandemiesommer. Und trotzdem: Die Platte wird ein Erfolg, die Sleaford Mods featuren Billy in ihrem Track »Mork ’n’ Mindy« – alles könnte geil sein, gäbe es Covid-19 nicht. Wieder Rückzug, Zweifel, Depression. Massenweise vorproduzierte Tracks, die Billy in die Tonne hauen will. Doch Producer James Trevascus holt sie wieder raus: die Songs aus der Tonne und Billy aus den Zweifeln. »Cacti« wächst zu einem stachligen, widerspenstigen, ausladenden Ableger des Debüts heran. Billy Nomates verlässt sich nämlich nicht auf das bewährte Erfolgsrezept aus Postpunk-No-Wave mit wütend ausgespuckten Lyrics. Sie geht einige Schritte weiter, wagt sich an softe Synthie-Melodien mit Eighties-Touch und unerwarteten Details wie ein Honky-Tonk-Klavier im Song »Same Gun«.
Und vor allem: Billy singt. Mal sanft und zurückhaltend, mal rüde und laut wie in der furiosen Don’t-fuck-with-me-Hymne »Spite«: »I’m only here, I’m only here ’cause I can / Little boy, don’t think you quite understand / Don’t you act like I ain’t the fucking man.« Billys Selbstermächtigungspop lässt an Hits von Gloria Gaynor und Kim Carnes denken, im bittersüßen »Blue Bone (Deathwish)« klingt Billy wie Dolly Parton, nur eben nicht im Saloon, sondern im Pub nebenan. Auf »Cacti« zieht Billy Nomates blank, setzt sich in die Nesseln und steigt wie Phoenix aus der Asche – genug der Floskeln: Das Album ist schlicht grandios.
Billy Nomates: »Cacti« (PIAS/Invada/Rough Trade)
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (19. Januar 2023 um 22:29 Uhr)Billy Nomates macht sicherlich gute Musik, wurde ja auch von Sleaford Mods und indirekt von Iggy Pop »gefördert«. Politisch unterstützt sie bindungslos und völlig unkritisch das Regime in Kiew – und meinte dazu erst kürzlich, sie »tue was Gutes«. Schade, dass dieser talentierten Künstlerin – leider wie auch vielen anderen - die kritische Haltung/Perspektive fehlt. Ich hätte nie gedacht, dass Bands wie Idles, Portishead etc. sich für das Regime in der Ukraine einspannen lassen. Der russische Angriff ist klar zu verurteilen, denn er rechtfertigt die Doktrin des »Präventivschlages«, die regelmäßig vom US-Imperialismus und den Kolonialmächten gerechtfertigt wurde bzw. wird. Das heißt jedoch nicht, dass die Hintergründe, Herausforderungen und Widersprüche, die Russland zu diesem fatalen Schritt geführt haben, ignoriert werden können. Einfach »solidarisch« und »blind« das Regime von Selenskij zu unterstützen, hilft weder den Menschen in der Ukraine inkl. Donbass noch einer diplomatischen Lösung, um den Krieg zu beenden.
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