Und sie bewegt sich doch
Von Stefan Siegert
Das Wort bleibt hängen. Zeitenwende. Eine begriffliche Übergröße. Der Begriffeaufwärmer im Kanzleramt nutzt das Wort, um die Tatsache zu beschreiben, dass sich menschheitlich in der Welt gerade Allesentscheidendes tut.
Er hat ein Handicap. Das Ding, das er gerade dreht, muss durch ein Nadelöhr. Das Nadelöhr einer Zurückführung dieser Zeitenwende auf den – bitte immer dran denken – »grausamen«, »blutigen«, »menschenverachtenden«, den vor allem »völkerrechtswidrigen Angriffskrieg« Wladimir Putins gegen die unschuldigen, mutig das Banner der Freiheit gegen die grausame, menschenverachtende – siehe oben – russische Tyrannei schwingenden Ukrainer.
Aber nachdem draußen in der Welt mehr und mehr begreifen, dass der Hase anders läuft, als in Berliner Jagdbeschreibungen vorgegeben, wird sich mit der Zeit wohl nicht verhindern lassen, dass ganz langsam auch der Block der notorischen Qualitätsmediennutzerinnen im Spitzenland Europas bröckelt: Auch dieses Kamel wird, so etwas deutet sich an, am Ende nicht durchs Nadelöhr gehen.
Der Begriffeaufwärmer und seine Leute wissen es natürlich längst. Bevor sie, wenn’s denn nötig wird, Diskussionen über Probleme, die am Ende nicht durch Nadelöhre passen, à la Erdogan, in, versteht sich, freiheitlich-demokratischer Manier, offen und nunmehr gänzlich verbieten – dürfen alle möglichen Menschen in diversen Talkshows und interaktiven Gesprächsforen alles mögliche zum Besten geben, was Gutversorgten so durchs Hirn wieselt, wenn der Tag lang ist. Im Mittelalter redeten sie sich die Köpfe heiß um die Frage, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben.
Die eher party-scholastischen Spitzfindigkeiten unserer Tage haben mit den mittelalterlichen (siehe »Name der Rose«) etwas gemeinsam: Es gibt eine rote Linie. Wer sie übertritt, wie es Männer wie Kopernikus, Giordano Bruno oder Galilei taten, war des Todes. Heute bekommt, schon, wer sich der roten Linie nähert, bei freilich noch lebendigem Leib die öffentlichen Mittel gekürzt, wie es den Nachdenkseiten geschieht; man bekommt den Geheimdienst auf den Hals gehetzt, wird als »extremistisch« gebrandmarkt, wie die junge Welt; oder sie stecken einen bei schon gar nicht mehr so lebendigem Leib fern jeder Rechtsstaatlichkeit für Jahre in eine Isolierzelle des schlimmsten britischen Hochsicherheitsgefängnisses – als nur erst einer Warteschleife für die Auslieferung an den schlimmsten Unrechtsstaat unserer Zeit: die Vereinigten Staaten von Amerika.
Die katholische Kirche hat 400 Jahre gebraucht, wenigstens einige ihrer mörderischen Dogmen zurückzunehmen, sie hat sich bis heute nicht bei den Millionen Opfern ihres weltweiten Glaubensterrors entschuldigt. Dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt, bestreiten heute trotz alledem nicht einmal mehr die Evangelikalen. Und so kreisen die Sonnen der Menschheit nicht mehr wehrlos um die Erde der Yankee-Demokratie, seit, neben vielen anderen, Julian Assange der Weltöffentlichkeit die Augen öffnete für Wesen und Wirken der selbsternannten bisherigen Weltführungsmacht.
Das absolute Supremat dieser ganz speziellen Sorte Demokratie gleicht Anfang 2023 dem absoluten Supremat Gottes im christlichen Mittelalter. Beide, der eine einzige Gott und die einzig mögliche Demokratie, überwölbten und stabilisierten die Wirklichkeit zweier aufeinander folgender europäischer Zeitalter. In ihnen ist die Arbeit der großen Mehrheit der Bevölkerungen Bedingung für die Existenz einer jeweils kleinen Bevölkerungsminderheit; eine Konstellation, die verlässlich für Krisen und Kriege sorgt. In ihrer Folge gerät heute der, zumindest nach außen erhobene, ethische Anspruch beider Machtsysteme der europäischen Geschichte in immer heftigere Konflikte mit ihrer Evidenz.
Die Kirche hat sich seit Galileo, Bauernkriegen und Schisma glänzend durchgemogelt, sie hat ideologisch sogar Nietzsche überlebt. Es steht gleichwohl Anfang 2023 nicht gut um sie. Der Demokratie bürgerlicher Provenienz geht es kaum besser. Ihr Narrativ wird – so, wie es aussieht – zumindest für von Korruption nur oberschichtig betroffene Völker angesichts immer fadenscheinigerer Lügen der nunmehr digitalisierten Kolonialherren immer unglaubwürdiger.
Und wir, ziemlich fernab der weltrevolutionären Vorgänge der Gegenwart – der Ukraine-Krieg ist ja nur als Vorspiel gedacht –, nehmen mit Blick auf die Geschichte staunend einmal wieder zur Kenntnis: Sie bewegt sich offenbar wirklich.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (20. Januar 2023 um 14:21 Uhr)Bedenken zur »Zeitenwende«. Beim Segeln ist das Kommando eindeutig klar zur Wende! Eine Wende fand auch historisch tatsächlich in der Geschichte bei dem großen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruch des Jahres 1990 im gesamten Osteuropa statt. Worauf aber von den Medien aufgegriffene »Zeitenwende« jetzt fußt, ist mir rätselhaft. Weder der militärische noch der Wirtschaftskrieg kann es sein, geschweige denn gesellschaftliche Stagnation. Ich muss zustimmen, dass der Westen an seine Zeitengrenze angestoßen ist, was klar erscheint, jedoch zur einen Wende fehlt gerade noch der Ausweg!
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Ronald B. aus Kassel documenta-Stadt (20. Januar 2023 um 09:57 Uhr)»Auch dieses Kamel wird, so etwas deutet sich an, am Ende nicht durchs Nadelöhr gehen« – schon allein deshalb nicht, weil das von Genosse Siegert hier landläufig formulierte Kamel noch nie durch überhaupt ein Nadelöhr (auch keines der nur menschenhohen Tempeltore Jerusalems …) ging, sondern es immer schon das Tau (der starke Strick) war, das nicht durch ein Nadelöhr ging. Der biblische Urheber der Redewendung wurde aufgrund eines ähnlichen Schriftzeichens falsch wiedergegeben – eher geht ein Tau durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher – oder runtergebrochen auf unsere Verhältnisse: ein Doktor – in den Himmel kommt …
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