Karabach hungert und friert
Von Reinhard Lauterbach
Von der breiteren Öffentlichkeit kaum bemerkt, ist die armenische Exklave Berg-Karabach seit Mitte Dezember weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten. Am 12. Dezember hatten aserbaidschanische »Umweltschützer« die einzige Verbindungsstraße zwischen der international nicht anerkannten Republik Arzach und Armenien blockiert. Sie begründeten das mit angeblich illegalem Rohstoffabbau auf dem Gebiet der überwiegend von Armeniern bewohnten Republik. Seitdem ist der Verkehr bis auf wenige Versorgungsfahrten des Roten Kreuzes unterbrochen.
Inzwischen herrscht in den Geschäften von Arzach Mangel an Nahrungsmitteln, vor allem Obst und Gemüse; knapp sind auch Medikamente, so dass die Krankenhäuser den Operationsbetrieb weitgehend eingestellt haben. Bereits kurz nach Beginn der Straßenblockade hatte Aserbaidschan die Gaslieferung aus Armenien nach Karabach unterbrochen, auch die einzige Stromleitung in die Exklave wurde im Dezember beschädigt und konnte wegen des Widerstands aserbaidschanischer »Aktivisten« bisher nicht wiederhergestellt werden.
Die Regierung in Baku bestreitet einerseits die Tatsache einer Blockade. Sie spricht von Provokationen von Karabach-Armeniern, die sich als Aserbaidschaner ausgäben. Dabei wurde schon in den ersten Tagen der Blockade beobachtet, dass das Zeltstädtchen, das die Blockierer an der Transitstraße eingerichtet haben, mit Hilfe des offiziellen aserbaidschanischen Katastrophenschutzes errichtet worden war. Andererseits betonte der aserbaidschanische Außenminister Dschejhun Bajramow noch am Mittwoch in einem Gespräch mit seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow das »Recht aserbaidschanischer Bürger«, gegen »illegale Wirtschaftsaktivitäten« zu protestieren. Lawrow hatte in Baku angerufen, um die Regierung Aserbaidschans zu bitten, für ein Ende der Blockade Sorge zu tragen.
Es ist dabei kennzeichnend, dass Lawrow nur ganz am Rande auf das unter russischer Vermittlung ausgehandelte Waffenstillstandsabkommen Bezug nahm, das unter anderem den Transitverkehr zwischen Armenien und Arzach über den sogenannten Latschin-Korridor regelt. Mit seiner Bitte an Bajramow schien er auch die Tatsache zu ignorieren, dass Russland eine 5.000 Mann starke Friedenstruppe in der Region stationiert hat, um den Waffenstillstand zu garantieren. Von Aktivitäten des russischen Militärs in diese Richtung ist aber nach Berichten örtlicher Medien nichts zu bemerken; sogar das Zeltstädtchen der Straßenblockierer steht in Sichtweite eines Stützpunkts der russischen Friedenstruppe, ohne dass sie eingeschritten wäre.
Es scheint ziemlich klar, dass Aserbaidschan versucht, im Schatten des Ukraine-Kriegs, der Russlands materielle Ressourcen beansprucht, den Status quo im Südkaukasus zu seinen Gunsten zu verändern. In erster Linie geht es um den Versuch, die aserbaidschanische Souveränität über die »Republik Arzach« wieder herzustellen. Präsident Ilham Alijew stellte die dortigen armenischen Bewohner in einer Fernsehansprache vor die Alternative, entweder die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit anzunehmen oder die Region zu verlassen – ob im eigenen Auto oder auf dem Lkw der russischen Friedenstruppe. Der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan warf Aserbaidschan daraufhin vor, eine »ethnische Säuberung« anzustreben: Baku wolle Karabach ohne Armenier.
Die bisher auf Worte beschränkte Unterstützung Russlands hat in Armenien für große Enttäuschung gesorgt; das Land versucht sich verstärkt in Richtung Westen zu orientieren. Nachdem mit Russland nicht zu rechnen ist, will Armenien jetzt die Krise mit Hilfe der UNO lösen. An der russisch dominierten »Organisation des Vertrags für Kollektive Sicherheit« (OVKS), der Armenien formal angehört, hat in Jerewan offenbar niemand mehr Interesse. Paschinjan hat bereits die Beteiligung seines Landes an einem geplanten gemeinsamen Manöver der OVKS in diesem Jahr abgesagt. Warme Worte aus Washington sind ihm dafür gewiss. US-Außenminister Antony Blinken versicherte Armenien in einem Telefongespräch mit Paschinjan seiner Solidarität; die USA seien »besorgt« über die »Zuspitzung«, berichtete der russischsprachige Dienst des US-Auslandssenders Voice of America am Donnerstag.
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