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Aus: Ausgabe vom 20.01.2023, Seite 6 / Ausland
Organisiertes Verbrechen

Italien im Mafiasumpf

Verhafteter Pate lebte 30 Jahre lang unbehelligt. Rechtsregierung will Hintergründe vertuschen
Von Gerhard Feldbauer
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Der Pate ist gefasst: Carabinieri-Chef Giuseppe De Liso (M.) vor der Pressekonferenz in Palermo (16.1.2023)

Der frühere »Boss der Bosse« der sizilianischen Mafia »Cosa Nostra«, Matteo Messina Denaro, ist am Dienstag verhaftet worden. Seit seiner Verurteilung zu lebenslanger Haft 1992 war er flüchtig. In einer Privatklinik in Palermo, in der er sich wegen eines Krebsleidens behandeln ließ, wurde er von ­Carabinieri festgenommen. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni eilte nach Palermo und feierte die Festnahme als »großen Erfolg«. Dass aber der Mafiapate 30 Jahre lang der Fahndung entgangen war und sich in den letzten zwei Jahren unter falschem Namen in dieser Klinik aufhalten konnte, scheint vielmehr an den »nie beendeten Beziehungen zwischen Staat und Mafia zu liegen«, schrieb Contropiano am Mittwoch. Das kommunistische Onlinemagazin verlangte »Klarheit darüber, was in diesen 30 Jahren passiert ist und wie es möglich war, dass der letzte große Vertreter der Cosa Nostra erst jetzt schwerkrank und kurz vor seinem Tod aufgespürt wurde«. Würde der Forderung nachgekommen, müsste auch die Vergangenheit von Meloni und ihren Kumpanen erörtert werden.

Zu den mehr als 30 Morden, die Denaro selbst verübte oder anordnete, zählen auch die Attentate auf Giovanni Falcone am 23. Mai 1992 und Paolo Borsellino am 19. Juli 1992. Die beiden Untersuchungsrichter wurden umgebracht, weil sie dabei waren, das Geflecht zwischen Mafia, Democrazia Cristiana (DC), Faschisten des Movimento Sociale Italiano (MSI) und Geheimdiensten offenzulegen. Meloni will mit ihrer Gratulation vergessen machen, dass sie mit ihren aus dem MSI – dem sie 1992 beitrat – hervorgegangenen »Brüdern Italiens« knietief in diesem Sumpf steckt.

Lassen wir die Fakten sprechen: Der Coup der Mafia gegen die Justiz gelang nur teilweise. Denn gegen die Schlüsselfigur des genannten Geflechts, den mehrmaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti (DC), erhob der Staatsanwalt von Palermo, Gian Carlo Caselli, am 27. März 1993 auf Grundlage der Ermittlungen Falcones und Borsellinos Anklage wegen Komplizenschaft mit der Mafia. In einem zweiten Prozess in Perugia wurde er der Anstiftung zum Mord am Herausgeber des Osservatore Politico, Carmine »Mino« Pecorelli, angeklagt. Der hatte Andreottis Rolle im Mordkomplott gegen Aldo Moro, an dem der MSI beteiligt war, enthüllen wollen und war 1979 einem Attentat zum Opfer gefallen. Wie der römische L’Europeo am 15. Oktober 1983 aufdeckte, war Andreotti der geheime Chef der faschistischen Putschloge »Propaganda Due« (»P2«), der Zen­trale des Mordkomplotts gegen Moro. Silvio Berlusconi, später Chef der Forza Italia (FI), war Mitglied im Direktorium der »P2« – seine FI-Wegbegleiter sitzen heute in Melonis Regierung.

Am 16. März 1978 wurde Moro, der mit dem Generalsekretär der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI) Enrico Berlinguer ein Regierungsbündnis geschlossen hatte, entführt, wobei die »P2« die Fäden zog. Den Zeitschriften L’Espresso (Heft 17/1978) und Panorama (662/1978) zufolge stimmte die MSI-Führung damals mit US-Militärs und der CIA überein, dass die PCI aus der Regierung »zu werfen« und ein Regime nach »chilenischem Vorbild« zu errichten sei. Washington sei bereit gewesen, einen geheim mit Italien vereinbarten »NATO-Mechanismus« zu aktivieren. Was wäre geschehen, wenn das Mordkomplott, in das die von den Geheimdiensten unterwanderten »Roten Brigaden« einbezogen waren, nicht wie geplant verlaufen und der »NATO-Mechanismus« in Gang gesetzt worden wäre? Auch auf die Frage, wo der entführte Moro bis zu seiner Ermordung am 9. Mai 1978 versteckt gehalten wurde, gibt es bis heute keine Antwort.

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