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Aus: Ausgabe vom 20.01.2023, Seite 6 / Ausland
Belgien

Tausend Menschen, zwei Duschen

In Brüssel leben Obdachlose und Asylsuchende in besetztem Hochhaus. Regierung verweigert trotz katastrophaler Zustände Hilfe
Von Gerrit Hoekman
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Matratze an Matratze: Etwa 1.000 Menschen leben in dem völlig überfüllten Hochhaus (Brüssel, 17.1.2023)

Etwa 1.000 Menschen leben in dem völlig überfüllten Gebäude. Seit Oktober ist das Hochhaus an der Paleizenstraat in Schaarbeek, der zweitgrößten Gemeinde der belgischen Hauptstadt Brüssel, besetzt. Aber »leben« ist wirklich nicht der richtige Ausdruck. Es gibt kein Wasser und keine Heizung. Es ist feucht. Die hygienischen Bedingungen sind katastrophal. Krätze und Diphtherie gehen um. Die Bewohner liegen Matratze an Matratze.

Die belgische Regierung hat bis jetzt nichts getan. Es geht ja bloß um Obdachlose und Asylsuchende. Am Dienstag platzte Jong Groen, der Jugendbewegung der belgischen Grünen, der Kragen. »Wir tun Dinge, die gegen das sind, wofür wir stehen«, stellte deren Kovorsitzender Kilian Vandenhirtz in der Onlineausgabe der Tageszeitung De Morgen fest. Sollte die Regierung bis Mittwoch untätig bleiben, müssten die Grünen die Koalition des liberalen Ministerpräsidenten Alexander De Croo verlassen, so Vandenhirtz.

Erwartungsgemäß ignorierte die Grüne Partei das Ultimatum. »Wenn wir den Stecker ziehen, helfen wir den Menschen in der Paleizenstraat sicher nicht. Außerdem haben wir dann einen komplett von der Asylkrise dominierten Wahlkampf, von dem nur Vlaams Belang profitieren würde«, begründete die Kovorsitzende der flämischen Grünen, Nadia Naji, in De Morgen den Verbleib in der Koalition. Die ultrarechte flämische Partei Vlaams Belang hatte bei den vergangenen Wahlen beständig zugelegt.

»Ich habe viele Flüchtlingslager besucht und in Kriegsgebieten gearbeitet: Noch nie habe ich solche Zustände erlebt«, zeigte sich der Arzt und frühere Minister für Entwicklungszusammenarbeit, Réginald Moreels, am Montag bei VRT Radio 1 geschockt. In der Paleizenstraat herrschten mittlerweile schlimmere Zustände als in Libyen, bestätigte am Mittwoch auch das Rote Kreuz gegenüber De Morgen. Die Hilfsorganisation hat vor ungefähr vier Wochen in einem Container vor dem Haus eine medizinische Notstation eingerichtet.

Ursprünglich sollte das frühere Finanzamt von Schaarbeek zu einer Unterkunft für Geflüchtete aus der Ukraine umgebaut werden. Als daraus nichts wurde, besetzte im vergangenen Herbst eine Gruppe von Asylsuchenden das Hochhaus. Dreiviertel von ihnen befinden sich in Asylverfahren, schätzt das Rote Kreuz. Eigentlich hätten sie Anrecht auf einen vernünftigen Platz in einer Unterkunft der Fedasil, der Nationalen Agentur für die Aufnahme von Asylsuchenden. Aber dort ist schon seit über einem Jahr alles belegt.

Stadtverwaltung und Landesregierung schieben derweil die Verantwortung hin und her. Sie überlassen die Bewohner des Hochhauses sich selbst. Die sanitären Einrichtungen des ehemaligen Verwaltungsgebäudes sind dafür nicht ausgelegt. Es gibt laut Rotem Kreuz nur zwei Duschen und wenige Toiletten. »Wir werden das Gebäude nicht betreten«, kündigte die eigentlich hartgesottene Obdachlosenorganisation Samusocial am Dienstag bei Bruzz, einem Brüsseler Lokalsender, an. Erst müssten die Behörden für ausreichende Sicherheit sorgen. Noch in der vergangenen Woche hatte es in der Paleizenstraat gebrannt.

Also müssen wieder einmal engagierte Bürgerinnen und Bürgern in die Bresche springen. Am Freitag vor einer Woche trafen sich Freiwillige der Organisation »Vriendschap zonder Grenzen« (Freundschaft ohne Grenzen) und der marxistischen PVDA in der Paleizen­straat, um mit Hilfe einiger Bewohner ein wenig sauberzumachen. »Es war schrecklich«, beschrieb Riet Dhont gegenüber Bruzz die vorgefundenen Zustände. Sie hatte die Freiwilligen zusammengetrommelt, um »den Bewohnern ihre Würde zurückzugeben«.

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