Milliarden Euro vorenthalten
Von Bernd Müller
Viele ehemalige DDR-Bürger verloren im Zuge des Anschlusses an die Bundesrepublik 1990 Ansprüche auf sogenannte Zusatzrenten, die sie im Laufe ihres Arbeitslebens etwa bei der Reichsbahn, der Post oder im Gesundheitswesen erworben hatten. Das Thema beschäftigt in den ostdeutschen Ländern immer noch hunderttausende Menschen. Nun, mehr als 30 Jahre später, bewegt sich die Bundesregierung ein bisschen: Wer mit der »deutschen Einheit« Ansprüche auf DDR-Zusatzrenten verloren hat und nun in Armut lebt, kann ab sofort eine Einmalzahlung beantragen.
Die Hilfe soll mindestens 2.500 Euro betragen, bestätigte das Bundessozialministerium gegenüber dpa. Bescheide soll es ab dem 31. März geben. Berücksichtigt werden allerdings nur Menschen, die offiziell als »bedürftig« angesehen werden, also eine Rente im Bereich der Grundsicherung beziehen. Ebenfalls berücksichtigt werden sollen Spätaussiedler und jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die in Armut leben. Für die Zahlungen wurde im vergangenen Jahr eigens ein Härtefallfonds in Höhe von 500 Millionen Euro eingerichtet, über den am Freitag erneut im Bundestag debattiert wird. Die Linke hat einen Antrag eingebracht, der eine umfassendere Lösung anstrebt.
Die Lebensleistung von 500.000 ostdeutschen Rentnern sei noch immer nicht anerkannt, heißt es in dem Antrag. Nach den von der Bundesregierung festgelegten Kriterien könnten nur bis zu 70.000 dieser Rentner Leistungen erhalten. »Damit würden rund 90 Prozent der Betroffenen, die seit mehr als 30 Jahren um die Anerkennung ihrer Rentenansprüche kämpfen, leer ausgehen«, heißt es weiter.
Betroffen sind 17 Berufs- und Personengruppen, darunter auch in der DDR geschiedene Frauen und Menschen, die Angehörige gepflegt haben. Sie seien keine »Härtefälle«. Sie hätten »jahrzehntelang gearbeitet, sie haben Beiträge gezahlt, sie haben Anwartschaften erworben, die aufgrund der politischen Versäumnisse bei der Ost-West-Rentenüberleitung nicht anerkannt wurden«.
Daraus sei ein historisches Unrecht entstanden, das die Partei in ihrem Antrag vorrechnet: Ostdeutschen Rentnern seien seit 1991 Rentenansprüche in Höhe von rund 40 Milliarden Euro vorenthalten worden. Mit einem Volumen von 500 Millionen Euro könne der Härtefallfonds diesen Verlust nicht angemessen ausgleichen. Vor diesem Hintergrund fordert die Fraktion Die Linke, dass alle 17 Berufs- und Personengruppen berücksichtigt werden und jeder einzelne Betroffene eine Entschädigung in fünfstelliger Höhe erhält.
Auch den Christdemokraten war das Fondsvolumen im vergangenen Jahr übrigens zu gering. Im Oktober brachten sie einen Antrag ein, in dem sie die Bundesregierung aufforderten, insgesamt eine Milliarde Euro für den Fonds zur Verfügung zu stellen. Im Ausschuss für Arbeit und Soziales stimmte jedoch eine Mehrheit aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen den Antrag. Er steht am Freitag ebenfalls auf der Tagesordnung.
Die Idee für den Härtefallfonds stammt aus der vergangenen Legislaturperiode, als die Unionsparteien CDU und CSU noch an der Bundesregierung beteiligt waren. Damals wurde beschlossen, dass insgesamt eine Milliarde Euro in den Fonds fließen sollen. Die darauffolgende SPD-geführte Bundesregierung setzte die Idee dann um – allerdings nur mit der Hälfte der vorgesehenen Mittel. In einer Antwort auf eine Anfrage der Unionsfraktion wies das Bundesministerium für Arbeit und Soziales jede Verantwortung von sich. Schuld an der Misere seien die Bundesländer, die »nicht zur hälftigen Finanzierung des Härtefallfonds bereit« gewesen seien. Dies sei um so bedauerlicher, als sie in der Vergangenheit im Bundesrat »wiederholt Handlungsbedarf für alle drei Betroffenengruppen angemeldet« hätten.
Der Union geht es allerdings nicht darum, ostdeutsche Rentner für entgangene Rentenansprüche zu entschädigen. Auch sie habe den Härtefallfonds lediglich als Ausgleich »für Härtefälle in der Grundsicherung« konzipiert, heißt es in der Antwort der Bundesregierung.
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