Alles auf den Rost
Von André Dahlmeyer
Einen wunderschönen guten Morgen! Heute ist der 18. Januar. Genau! Vor einem Monat wurde Argentinien zum dritten Mal Fußballweltmeister. Lassen Sie uns darauf anstoßen, und sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich dies mit einem mondänen Eber-Pils aus Frankfurt (Oder) mache. Es war eine Erfolgsgeschichte, in der ein Rad in das andere greift, und das soll keine Anspielung auf Nationalcoach Lionel Scaloni sein, der auf Mallorca lebt und da schon mal vom Rad stürzte, was gar nicht gut ausschaute. Nicht der Sturz, den habe ich nicht gesehen, ich meine sein Gesicht danach. Aber Indianer kennen keinen Schmerz.
Es war eine Erfolgsgeschichte, weil Argentinien sich auf seine Wurzeln besonnen hatte, die in den 70er Jahre (Mitte) von dem neuen Nationaltrainer César Luis Menotti erstmals ausgegraben und also geehrt wurden. Das Tiki-Taka stammt ja nicht aus dem spanischen Fußball oder gar von Barça, es entstand in den 40er/50er Jahren im schönen Silberland und geriet aufgrund von Dekadenz in der Folge immer mal wieder in Vergessenheit. Erst der Bielsa-Jünger und Argentinien-Fan Pep Guardiola kramten diesen Style wieder aus der Mottenkiste.
Marcelo Bielsa indes machte einen Spagat zwischen dem Stil von Menotti und dem von Ernst Happel, der im Endspiel 1978 in Buenos Aires (für meinen Geschmack das beste Fußballspiel aller Zeiten) die Niederlande gecoacht hatte und später den HSV und Franz Beckenbauer. Noch entscheidender für den argentinischen Fußball war indes die Jugendarbeit von José Néstor Pékerman, der den Silberländern direkt und indirekt zu fünf von sechs U20-Titeln verhalf (den ersten, damals noch U19, gewann Menotti bereits 1979 mit Maradona in Japan gegen die Sowjets). Zwar ist der letzte Titelgewinn 2007 schon eine Weile her. Doch die aktuelle U20 – voll überbordender Talente – wird von Javier Mascherano geleitet, Argentiniens Rekordnationalspieler gleich nach Messi. Ausnahmsweise mal kein Pékerman-Produkt, wurde Mascherano vor bereits 20 Jahren erstmals von Bielsa in die Selección berufen – da hatte er noch nicht mal bei seinem Klub River Plate in der Primera División debütiert. 2004 wurde er mit Bielsa Olympiasieger in Athen. Und zum »Jefecito« (Scheffchen). Kurz darauf dankte Bielsa ab, war ausgebrannt. Die Medienschelte in Argentinien war mörderisch. Argentinien war als Topfavorit beim Asien-Mundial bereits nach der Gruppenphase ausgeschieden, das hallte noch immer nach.
Menotti hat heute bei der AFA, dem Fußballverband der Gauchesken, den Job, den früher Pékerman bekleidete, als der noch nicht Nationalcoach war – er ist sozusagen der Generalmanager für alle Nationalmannschaften. Lionel Scaloni und seine »Assistenten« Walter Samuel, »Ratón« Ayala und Pablito Aimar sind allesamt waschechte Pékerman-Boys. Ihre Werte und Lebenseinstellungen haben sie zu einem großen Teil von José gelehrt bekommen, dem nach dem Ausscheiden Argentiniens bei der WM in Deutschland am internationalen Flughafen von Ezeiza von einer Menschenmenge ein triumphaler Empfang bereitet worden war. Ich werde ihn nie vergessen, schon weil ich extra aus Feuerland angereist war, wo ich damals lebte. Durch ihren Spielstil und Amateurspirit hatte die Albiceleste während dieser WM weltweit Abermillionen von Fans gewonnen, vor allem, weil sie nie ihre Spielidee verraten hatte. Kleiner Exkurs: Pablo Aimar war das fußballerische Vorbild Lionel Messis. Heute ist er Juniorennationaltrainer. Messi spielte einst bei Aimars River Plate vor, doch der Rekordmeister hielt den »Floh« für untalentiert. Offenbar Winke des Schicksals.
Lionel Scaloni wiederum brachte der Albiceleste das Forechecking Bielsas bei, das dieser von Happel adaptiert hatte. Und das »sin trampa« Menottis. Ehrlich spielen, nicht simulieren, alles auf den Grillrost werfen – dann ist jede Niederlage auch eine Weiterentwicklung. Was vor einem Monat geerntet wurde, sind Früchte des Zorns, des Aufbegehrens, eine Blaupause purer Rebellion. Vom Bolzplatz auf den Olymp.
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