»Experimentierfeld« für Mord
Von Kristian Stemmler
Wenn von den Verbrechen der Nazis die Rede ist, fallen vielen die Namen der großen Konzentrationslager wie Buchenwald oder des Vernichtungslagers Auschwitz ein. Eher wenig bekannt ist, dass auch die lettische Hauptstadt Riga ein Zielort von Deportationen und Tatort der Verbrechen deutscher Faschisten war. Mit einer Ausstellung, die am vergangenen Freitag im Hamburger Rathaus in Anwesenheit von Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) eröffnet wurde und noch bis 8. Februar gezeigt wird, will die »Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen« dazu beitragen, diesem Mangel abzuhelfen. Unter dem Titel »Der Tod ist ständig unter uns« wird auf 40 Schautafeln an das Schicksal der nach Lettland verschleppten und dort ermordeten Juden erinnert.
Riga war das Zentrum jüdischen Lebens in Lettland. Zwischen November 1941 und Winter 1942 seien rund 25.000 Juden aus Deutschland, Wien, Prag und Brünn dorthin deportiert worden, wie Franziska Jahn, die die Ausstellung gemeinsam mit Clemens Maier-Wolthausen und Natascha Höhn kuratiert hat, am Montag gegenüber jW ausführte. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen im Juli 1941 hätten Angehörige der SS, Polizei und Wehrmacht sowie lettische Hilfstruppen fast alle der rund 70.000 in Lettland lebenden sowie die dorthin deportierten Juden ermordet. Nur rund 1.000 Deportierte hätten überlebt, so Jahn. Auch 753 Hamburgerinnen und Hamburger wurden nach Riga deportiert. Der Hannoversche Bahnhof in der Hansestadt war damals Ausgangspunkt, aber auch Zwischenstation für Deportationen aus Norddeutschland. Zu den prominentesten Opfern aus Hamburg zählt der Rabbiner Joseph Carlebach, der am 6. Dezember 1941 zusammen mit seiner Familie in das Lager Jungfernhof bei Riga deportiert wurde. Er, seine Frau und seine drei jüngsten Kinder wurden im März 1942 von der SS erschossen.
Die Deportationen in Richtung Osten hätten unter anderem den Zweck gehabt, die Vernichtung der Juden abseits der deutschen Öffentlichkeit zu organisieren, erklärte Kuratorin Jahn weiter. Riga sei dabei – ebenso wie das belarussische Minsk und das litauische Kaunas – »eine Art Experimentierfeld« gewesen. Noch bevor auf der Wannseekonferenz die »Endlösung der Judenfrage« beschlossen wurde, seien dort bereits Massenerschießungen durchgeführt worden. Zwischen 1941 und 1944 hätten die deutschen Besatzer mehrere Haft- und Exekutionsorte in und um Riga eingerichtet, so das zentral in der Stadt gelegene Ghetto. In ihnen seien jüdische Frauen, Männer und Kinder aus weiten Teilen Europas »gequält, ausgebeutet und ermordet« worden.
Auf den Tafeln der Ausstellung wird über geschichtliche Hintergründe ebenso informiert wie über Einzelschicksale. Unter dem Zwang der Besatzungsmacht hätten jüdische Selbstverwaltungen das Leben im Ghetto organisiert. Harte Zwangsarbeit und Hunger hätten den Alltag im Ghetto dominiert, doch daneben seien die Menschen auch bemüht gewesen, sich selbst zu behaupten. So heißt es beispielhaft auf einer Tafel: »Freundschaften entstanden. Ehen wurden geschlossen, Kinder in Schulen unterrichtet, Fußball gespielt; Lesungen, Theater- und Tanzaufführungen organisiert sowie religiöse Feste gefeiert«.
Nur wenige Überlebende seien in ihre Heimatländer zurückgekehrt, erklärte Jahn. Zumeist hätten sie vergeblich um Gerechtigkeit gekämpft. Eine umfassende juristische Aufarbeitung der Naziverbrechen in Lettland sei ausgeblieben, Gerichtsverfahren habe es nur wenige gegeben. Auch in der lettischen Gesellschaft seien diese Verbrechen bis heute ein schwieriges Thema, so die Kuratorin. Über die Beteiligung von Teilen der lettischen Bevölkerung an der Verfolgung der Juden werde selten gesprochen.
Die vom Auswärtigen Amt finanzierte Wanderausstellung war im vergangenen Herbst in einer umfangreicheren Variante zunächst im lettischen Okkupationsmuseum in Riga gezeigt worden. Mitte Februar soll die Ausstellung an der Universität Düsseldorf zu sehen sein, im Spätsommer in Rheine sowie anschließend in Leipzig und Berlin.
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