Nukleare Transformation
Von Bernd Müller
Die polnische Regierung plant eine Transformation in der Energieversorgung. Das beinhaltet die Abkehr von der Kohleverstromung; aus Gründen des Klimaschutzes, aber auch, weil die hohen Preise für Kohlestrom die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen. Polnische Medien berichteten zudem am Mittwoch, die Kohlekraftwerke arbeiteten nach mehreren Ausfällen nur mit halber Leistung. Anfang Januar musste man an den Strombörsen für polnischen Kohlestrom mehr als doppelt soviel zahlen wie für Strom aus Deutschland, berichtete am Dienstag die polnische Ausgabe von Business Insider. Dies habe sich auch in den Preisen für energieintensive Produkte wie Brot und Tiefkühlkost niedergeschlagen.
Die Kohlevorräte sind aber auch nicht unendlich, was die Transformation des Energiesystems ohnehin früher oder später auf die Tagesordnung gesetzt hätte. Nach Prognosen des Staatlichen Geologischen Instituts reichen die Vorkommen an Steinkohle noch für etwa 50 Jahre, die Braunkohle könnte sogar schon in 20 Jahren aufgebraucht sein.
Wie der Wandel des polnischen Energiesystems gestaltet werden soll, ist in dem Konzept »Polnische Energiepolitik bis 2040« festgehalten, das im Februar 2021 veröffentlicht wurde. Zentraler Baustein der künftigen Energieversorgung sollen Atomkraftwerke sein. Insgesamt sollen sechs Blöcke ans Netz gehen; der erste im Jahr 2033, alle weiteren sollen in einem Abstand von zwei bis drei Jahren folgen. Die Regierung in Warschau beabsichtigt auch, den Bau sogenannter kleiner modularer Reaktoren (SMR) durch private Investoren zu fördern.
Der erste Atommeiler soll an der Ostsee gebaut werden, etwa 80 Kilometer nordwestlich von Gdansk und etwa 300 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Vor Ort stoßen die Pläne auf Widerstand der lokalen Bevölkerung, die sich unter anderem in der Bürgerinitiative »Ostsee-SOS« organisiert. Doch wie dpa berichtet, müssen die Aktivisten mit heftigem Gegenwind rechnen. Häufig werden sie von Befürwortern des AKW-Baus als »deutsche Agenten« diffamiert.
Ein Grund: Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Berlin haben sich gegen das Projekt positioniert und Warschau aufgefordert, das Vorhaben zu stoppen. »Vor dem Hintergrund der verheerenden Atomunfälle in Tschernobyl und Fukushima sollte auf Pläne zur weiteren Nutzung der Kernenergie im Interesse der Bevölkerung und Umwelt aller Ostseeanrainer verzichtet werden«, heißt es in einer Mitte Dezember veröffentlichten Erklärung.
Doch an den deutschen Befindlichkeiten müssen sich die Menschen in der polnischen Region nicht orientieren. Sie haben vielmehr Angst um ihre eigene Existenzgrundlage. Viele leben vom Tourismus, vom Vermieten von Ferienwohnungen. Ein Atommeiler in unmittelbarer Umgebung dürfte dabei nicht gerade förderlich sein. Der regionalen Betroffenheit steht ein Stimmungswandel in der polnischen Gesellschaft gegenüber. Noch im Juni 2021 waren 45 Prozent der Polen gegen Atomkraft, 39 Prozent waren dafür. Mit dem Krieg in der Ukraine stiegen die Zustimmungswerte allerdings auf rund 75 Prozent.
Für einen raschen Ausbau von Anlagen zur Nutzung der Wind- und Sonnenenergie fehlte bislang der politische Wille. Der staatliche Netzbetreiber PSE hat die Reduktion der Windkraftkapazitäten angeordnet, berichtete Business Insider. Die vorhandenen Windparks könnten deutlich mehr günstigen Strom in die Netze einspeisen, aber sie dürfen es nicht und müssen für den Ausfall entschädigt werden.
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