Stabiler Wackelkandidat
Von Klaus Fischer
Die deutsche Wirtschaftsleistung ist im vergangenen Jahr gewachsen. Laut Statistischem Bundesamt lag das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2022 bei 3.858 Milliarden Euro und damit um 1,9 Prozent höher als im Jahr zuvor. In Normalsprache übersetzt: Die Konjunktur läuft solide. Die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt (IWF-Zahlen von 2021 und berechnet nach Kaufkraftparität) scheint stabil.
Dennoch mutet das vorläufig geschätzte Ergebnis überraschend an. Seit Februar 2022 hatte sich der deutsche Staat als unterstützende Kriegspartei gegen Russland positioniert. Seitdem bemüht der mediale Mainstream im Gleichschritt die Phrase vom »russischen Angriffskrieg«, der Schuld an gewissen ökonomischen Turbulenzen hierzulande habe.
Westliche Sanktionen und Waffenlieferungen an Kiew mussten schon deshalb zu wirtschaftlichen Problemen führen, weil der auserkorene Gegner zu den wichtigsten Lieferanten für Rohstoffe und diverse industrielle Vorprodukte gehörte. Öl und Gas, Düngemittel, Papier, Holz oder Metalle aus Russland wurden zwar weiter benötigt, waren aber politisch nicht mehr erwünscht. Eine fatale Situation für eine profitorientierte Wirtschaftsmacht.
Ersatz war zeitnah kaum zu beschaffen. Und wenn doch, nur zu atemberaubenden Preisen. Damit brachten die meist kaufkräftigen großen Staaten des Westens mit ihrer politischen Entscheidung einen abrupten Nachfrage- und Preisschub hervor.
Inflation ist zwar nominell ein Wachstumstreiber, weil der »Wert« der erzeugten (beziehungsweise verbrauchten) Waren und Leistungen innerhalb eines Jahres in realisierten Preisen dargestellt wird. Eine aussagekräftige Bewertung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ergibt sich aus dem nominellen BIP allerdings nicht. Dazu bedarf es der Preisbereinigung. Durch diese erhalten wir dann den Wert der »realen Wirtschaftsleistung«, wie sie auch vom Statistikamt vorgelegt wird.
Bekanntlich waren auch 2021 und 2020 Krisenjahre. Wegen der zum Teil drastischen Einschränkungen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens blieb der private Konsum weit hinter den üblichen Zahlen zurück. Auch die Wirtschaft war betroffen; insbesondere viele Dienstleister. Insofern erscheinen die 1,9 Prozent weniger überraschend als auf den ersten Blick.
Klar ist dennoch, dass wichtige Indikatoren für einen weiteren Wirtschaftsaufschwung 2023 nicht günstig sind. Die Globalisierung lahmt, einst bestehende Lieferketten sind zum Teil bis heute nicht wieder voll funktionsfähig – was auch mit den westlichen Sanktionen zu tun hat. Vor allem Energie wird im Hochpreissegment bleiben. Das verteuert hergestellte Waren und erbrachte Dienstleistungen – und macht sie weniger konkurrenzfähig. Hinzu kommt, dass in wichtigen Erwerbsbereichen die Löhne steigen müssen. Einerseits, um die Arbeitskräfte zu halten; andererseits, um neue Leute überhaupt zu bekommen. Auch 2023 wird ein geburtenstarker Jahrgang in Rente gehen.
Propagandistisch wird dem Prinzip Hoffnung stärker gehuldigt als bereits in den Jahren zuvor. Die Gefahr, sich damit in die eigene Tasche zu lügen, steigt. Schließlich wollen die Strippenzieher des gigantischen medialen Feldzuges zur Verteidigung der Entscheidung, sich mit Russland anzulegen, jeglichen Eindruck einer ökonomischen Selbstverstümmelung erst gar nicht aufkommen lassen. Nicht nur für Wirtschaft und Konsumenten dürften deshalb anstrengende Tage kommen – auch für Statistiker.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Gabriel T. aus Berlin (14. Januar 2023 um 10:38 Uhr)Lieber Klaus, in deinem Artikel vermittelst du durch die etwas geschraubte Formulierung den Eindruck, dass die genannte Zahl schon inflationsbereinigt sei. Lässt sich dies vielleicht noch klarstellen. Im Vergleich zu 2018 ist das BIP der BRD um 0,2 Prozent gesunken.
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