»Wenn wir das befolgen, ertrinken mehr Menschen«
Interview: Kristian Stemmler
In einer gemeinsamen Erklärung protestieren die im Mittelmeer aktiven Seenotrettungsorganisationen gegen ein zum Jahresbeginn in Kraft getretenes Dekret der ultrarechten italienischen Regierung. Was ist der Inhalt des Dekrets?
Das Dekret betrifft ausschließlich zivile Seenotrettungsorganisationen. Die Crews unserer Schiffe sollen nur noch eine einzige Rettung durchführen dürfen, bekommen dann sofort einen Hafen zugewiesen und müssen auf direktem Weg dort hinfahren. Zudem soll der Kapitän Asylverfahren bereits an Bord vorbereiten, hierfür Daten der Geretteten erheben. Bei Verstößen gegen die Regelungen drohen uns Geldstrafen bis 50.000 Euro, die Festsetzung unserer Schiffe und bei Wiederholung deren Beschlagnahmung. Das Ziel ist klar: Unsere Arbeit soll erschwert, Rettungen sollen verhindert und die spendenfinanzierten NGOs durch höhere Kosten zermürbt werden.
Warum ist es ein Problem, dass die Schiffe nach einer Rettungsaktion sofort einen italienischen Hafen ansteuern sollen?
Dieser Passus der neuen Richtlinie hat zwei folgenschwere Haken. Erstens soll verhindert werden, dass wir weitere Rettungen durchführen, auch wenn wir mehr Menschen aus Seenot retten könnten. Zweitens zeigt die aktuelle Praxis der Behörden, dass den NGO-Schiffen Häfen weit im Norden Italiens zugewiesen werden. Das Ziel ist offenbar, die Schiffe möglichst lange vom Rettungsgebiet fernzuhalten. Das ist menschenverachtend, denn im Mittelmeer vor Libyen rettet sonst niemand – abgesehen von der sogenannten libyschen Küstenwache, die flüchtende Menschen widerrechtlich abfängt und in das Land zurückschleppt.
Was kritisieren Sie an der Bestimmung des Dekrets, Daten von Überlebenden zu sammeln?
Vorgeschrieben wird, an Bord von Rettungsschiffen Daten von Überlebenden zu sammeln, die internationalen Schutz beantragen möchten. Diese sollen wir dann den Behörden zur Verfügung stellen. Es obliegt jedoch Staaten, Asylgesuche zu registrieren und die Verfahren einzuleiten. Ein privates Schiff ist dafür nicht der geeignete Ort. Im europäischen Recht sind die Bedingungen für Asylverfahren festgelegt. Zum Beispiel müssen diese an einem sicheren Ort erfolgen und Übersetzer involviert sein. Das hat nichts mit der Situation auf einem fahrenden Schiff zu tun, auf dem sich die Überlebenden weiterhin in einer Notsituation befinden.
Lässt sich absehen, welche Folgen eine Umsetzung des Dekrets für die Menschen in Seenot auf dem Mittelmeer haben wird?
Es ist zynisch anzuordnen, dass wir nur noch eine Rettung durchführen sollen, und widerspricht zudem geltendem internationalen Seerecht. Denn die Crew jedes Schiffes ist zur Rettung verpflichtet, wenn ein Kapitän von einem Notfall erfährt. Wenn wir die neue Richtlinie befolgen, werden mehr Menschen ertrinken. Außerdem werden durch lange Fahrten zu Häfen im Norden viel weniger Schiffe auf der riskanten Fluchtroute im zentralen Mittelmeer retten können, was ebenfalls mehr Tote zur Folge haben wird.
Gegen welche internationalen Bestimmungen verstößt das Dekret nach Auffassung der Organisationen? Und ist ein juristisches Vorgehen geplant?
Das italienische Dekret widerspricht dem internationalen Seerecht, den Menschenrechten und europäischem Recht. Es ist absurd zu verlangen, dass ausgerechnet die Crews der Rettungsschiffe der Verpflichtung zur Seenotrettung nicht nachkommen und Menschen wissentlich ertrinken lassen. Sollte es zu Strafmaßnahmen gegen uns kommen, weil wir – entgegen den Vorgaben des Dekrets, aber internationalem Seerecht folgend – nach der ersten noch weitere Rettungen durchführen, dann werden wir uns juristisch dagegen wehren.
Was fordern Sie von der italienischen Regierung unter Führung der Ministerpräsidentin Giorgia Meloni?
Die italienische Regierung muss dieses Dekret umgehend widerrufen. Es richtet sich zwar gegen zivile Seenotrettungsorganisationen, trifft aber vor allem die Menschen, die dringend unsere Hilfe benötigen: die Flüchtenden in Seenot im zentralen Mittelmeer.
Petra Krischok ist Sprecherin der Rettungsorganisation »SOS Humanity«
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