Zehntausende gegen Staatsgewalt
Von Henning von Stoltzenberg
Die Proteste gegen die Räumung und den Abriss des besetzten Dorfes Lützerath sind am Wochenende von erheblicher Polizeigewalt überschattet worden. Mit einer Großdemonstration hatte die Klimabewegung am Sonnabend unter dem Motto »Gegen die Räumung – Für Kohleausstieg und Klimagerechtigkeit« gegen die Pläne des Energiekonzerns RWE und der schwarz-grünen Landesregierung in NRW protestiert, die unter Lützerath befindliche Kohle zu fördern. Die Veranstalter sprechen von 35.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, das Bündnis »Alle Dörfer bleiben« von bis zu 50.000, die Polizei von 15.000.
Durch den Polizeieinsatz am Samstag sei eine »hohe zweistellige bis dreistellige Zahl« von Personen verletzt worden, sagte eine Sprecherin des Demosanitätsdienstes in einer am Sonntag verbreiteten Mitteilung. Darunter seien viele schwer und sogar einige lebensgefährlich Verletzte. Angegriffen hatten die Beamten mit Pfeffersprays, Schlagstock- und Faustschlägen. Dabei habe es besonders viele Kopfverletzungen gegeben. »Die Polizei hat also nicht nur in Einzelfällen, sondern systematisch auf den Kopf von Aktivistinnen und Aktivisten geschlagen«, so die Sprecherin.
Es sei erschreckend, wie gewalttätig und menschenverachtend die Einsatzkräfte gegen die Klimagerechtigkeitsaktivistinnen und -aktivisten in Lützerath vorgegangen sind, erklärte Anja Sommerfeld vom Bundesvorstand der Roten Hilfe in einer Stellungnahme. Die Polizei bestreitet die Vorwürfe. Der Einsatzleitung sei nach eigenen Angaben nichts davon bekannt, dass bei der »Anti-Kohle-Demonstration« Teilnehmer lebensgefährlich verletzt worden sein sollen.
»Die Menschen hier sind wütend über diese gefährliche und völlig überstürzte Räumung«, erklärte Christopher Laumanns vom Bündnis »Alle Dörfer bleiben« am Sonntag gegenüber jW. Wie schon in den Tagen zuvor habe es viel Polizeigewalt gegeben. Nur sei sie am Samstag auf freiem Feld viel sichtbarer gewesen. Tausende Demonstrantinnen und Demonstranten hatten die vorgesehene Wegstrecke verlassen und sich Richtung Lützerath aufgemacht. Auf den freien Flächen fand eine regelrechte Hetzjagd der Polizei statt, die von zahlreichen linken Gruppen und Bündnissen auf Twitter dokumentiert wurde.
Es sei zugleich ein schöner und starker Tag gewesen, erklärt Laumanns. Trotz Verbots sei es gelungen, Lützerath mit Aktivistinnen und Aktivisten zu umrunden. An diesem Dienstag stehe bereits der nächste Aktionstag des Bündnisses »Lützerath unräumbar« bevor, einem Zusammenschluss mehrerer Klimaschutzorganisationen. In den Protestcamps befänden sich weiterhin mehrere tausend Menschen, die sich zunächst einmal ausruhen würden. In den nächsten Tagen sei aber mit weiteren Aktionen zu rechnen. Es handele sich nicht um eine regionale, sondern eine globale Angelegenheit. Noch könne der Fehler korrigiert werden, die Kohle müsse in der Erde bleiben.
Die auf der Demonstration am Sonnabend anwesende Aktivistin Greta Thunberg kritisierte die im Bund und in NRW mitregierenden Grünen gegenüber dpa wegen ihrer Unterstützung für den Abriss von Lützerath und das Abbaggern der unter dem Dorf liegenden Kohle. Konzerne wie RWE müsse man dafür zur Rechenschaft ziehen, wie sie mit Menschen umgingen. »Dass die Grünen mit solchen Unternehmen Kompromisse schließen, zeigt, wo ihre Prioritäten liegen«, so Thunberg.
Unterdessen harrten auch am Sonntag zwei Klimaaktivisten noch in einem unterirdischen Tunnel aus. Wie lange es dauern werde, sie dort herauszuholen, sei völlig unklar, sagte am Sonntag ein Sprecher des Energiekonzerns RWE, dessen Betriebsfeuerwehr das bewerkstelligen wolle. Sie kontrolliere an dem Schacht regelmäßig ein Belüftungsgerät. Eine Sprecherin der Gruppe »Lützerath lebt« sagte am Sonntag, der Zustand der beiden sei stabil. Am Sonntag nachmittag teilte die Polizei mit, alle Aktivistinnen und Aktivisten, die sich bis dahin noch in Baumhäusern befunden hatten, geräumt zu haben.
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