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Aus: Ausgabe vom 14.01.2023, Seite 2 / Ausland
Partei der Reaktion in Bolivien

»Camachos Kreis ist gewaltbereit und vernetzt«

Bolivien: Aufmärsche in Santa Cruz nach Festnahme von extrem rechtem Gouverneur. Ein Gespräch mit Gustavo Manuel Medina Delgado
Interview: Thorben Austen
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Protestierende nach der Verhaftung des ultrarechten Gouverneurs Luis Fernando Camacho (Santa Cruz de la Sierra, 3.1.2023)

Seit der Festnahme des Gouverneurs im bolivianischen Departamento Santa Cruz, Luis Fernando Camacho, Ende Dezember gibt es gewalttätige Proteste rechter Gruppen. Was sind deren Ursachen, und wer ist daran beteiligt?

Camacho gehört zum Kreis der ultrarechten Unternehmer und Politiker, die den Staat für ihren eigenen Vorteil ausgenutzt haben. Camacho ging aus jenen mächtigen Kreisen hervor, die sich nach dem Amtsantritt der linken Regierung von Evo Morales 2005 in Santa Cruz de la Sierra zusammengeschlossen hatten. Das ist eines der Gebiete, in denen Unternehmergruppen besonders aktiv waren. In der Agrarregion hatten sie in den 1970er Jahren während der Diktatur von Hugo Banzer Suárez viel Land übertragen bekommen. Er hatte rund 60 Prozent des Bodens in Bolivien an seine Generäle und treuesten Verbündeten verschenkt. Diese entwickelten eine politische und ökonomische Macht und waren immer nah dran an den jeweiligen Regierungen jener Jahre. Sie lebten auf Kosten der großen Mehrheit der Bevölkerung, die damals keinen Zugang zu Bildung und Gesundheit hatte. Und bis Anfang der 2000er Jahre waren in Bolivien nur rund 1,5 Millionen Menschen für die Wahlen registriert.

Wo begann Camacho seine politische Karriere?

Von 2002 bis 2004 war er Vizepräsident der Unión Juvenil Cruceñista. Das ist eine Gruppe, die von internationalen Institutionen als »paramilitärisch« eingeschätzt wird und wiederholt gewalttätig bei politischen Krisen in Erscheinung trat. Aktuell ist die UJC für die Brandstiftungen und Übergriffe verantwortlich. Sie nutzt eine ähnliche Symbolik wie die SS und den Hitlergruß.

Nach dem Putsch gegen Morales 2019 war Camacho mitverantwortlich dafür, dass sich Polizei und Militär gegen die gewählte Regierung und gegen die Proteste wandten. Das führte damals zu 30 Toten und mehr als 700 Verletzten. Internationale Menschenrechtsorganisationen haben festgestellt, dass es regelrechte Hinrichtungen gab, Menschen mit Genickschüssen ermordet wurden. Camacho verweigerte sich viermal der staatsanwaltschaftlichen Anhörung zu diesen Vorwürfen, daher erfolgte jetzt seine Festnahme.

Welche Rolle kommt der Unión Juvenil Cruceñista zu?

Die UJC agiert als bewaffneter Arm des sogenannten Bürgerkomitees für Santa Cruz, des Comité pro Santa Cruz. Sie ist keine legale Organisation und hat einen klar separatistischen Charakter. Nachdem Camacho bei den Wahlen mit seiner Partei Creemos nur 14 Prozent der Stimmen geholt hatte – gegenüber fast 55 Prozent für den aktuellen Präsidenten Luis Arce –, verkündete er, man müsse die Beziehungen zwischen dem Departamento Santa Cruz und dem Staat Bolivien überprüfen. Das heißt: Sie wollen einen eigenen Staat gründen.

Sind die Proteste nur auf Santa Cruz beschränkt, oder finden sie in ganz Bolivien statt?

Der Schwerpunkt liegt auf Santa Cruz. Dort haben die Proteste zuletzt aber abgenommen. Es gab den Versuch, sie auf alle neun Departamentos in Bolivien auszudehnen, insgesamt war die Teilnahme aber gering. Dafür demonstrierten viele verarmte Menschen in Bolivien. Sie fordern, dass Camacho der Prozess gemacht und Gerechtigkeit hergestellt wird für die Verbrechen, die während der Putschregierung 2019/2020 geschehen sind.

Glauben Sie, dass die aktuellen Proteste eine Gefahr für die Regierung des linken Präsidenten Arce darstellen können?

Nein, die Proteste der extremen Rechten sind dafür zu sehr auf Santa Cruz fokussiert. Der multinationale Staat Bolivien muss aber jetzt dafür sorgen, dass die öffentliche Ordnung und die territoriale Einheit erhalten bleibt. Man darf nicht vergessen: Der Personenkreis um Camacho – die Unternehmer, die die UJC und das »Bürgerkomitee« führen – ist äußerst gewaltbereit und international vernetzt. Diese Leute haben gute Kontakte zur extremen Rechten zum Beispiel in Chile und Peru, zur ultranationalistischen Partei Vox in Spanien und in die USA.

Hinter diesen ganzen Konflikten steht auch die Frage der Ausbeutung der Bodenschätze – Bolivien verfügt über 85 Prozent der weltweiten Lithiumvorkommen – sowie die Frage danach, wer davon profitiert: das gesamte Volk oder eine kleine Elite?

Gustavo Manuel Medina Delgado ist bolivianischer Fachanwalt für Verfassungsrecht und Menschenrechte und lebt derzeit in Chile

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