Paukenschlag in Belfast
Von Dieter Reinisch, Galway
Im Jahr sieben nach dem »Brexit«-Referendum nähern sich Brüssel und London im Schneckentempo an. Seit dieser Woche sprechen sie wieder über die bei nordirischen Unionisten verhassten Zusatzbestimmungen zum »Brexit«-Vertrag. Am Montag gab es sogar eine kleine Einigung über dieses sogenannte Nordirland-Protokoll. Ob das allerdings ausreicht, den politischen Stillstand im Belfaster Regionalparlament Stormont zu beenden, ist zweifelhaft.
In Belfast kamen am Mittwoch der britische Außenminister James Cleverly, Nordirland-Staatssekretär Christopher Heaton-Harris und Vertreter aller nordirischen Parlamentsparteien zu Verhandlungen zusammen. Dabei sollte es um eine Lösung der Regierungskrise in Nordirland und das »Brexit«-Zusatzprotokoll gehen. Doch es kam zu einem Paukenschlag: London ließ die Chefin der republikanischen Partei Sinn Féin (SF), Mary Lou McDonald, nicht teilnehmen. Die größte Partei Nordirlands boykottierte daraufhin das Treffen. Auch die Social Democratic and Labour Party (SDLP) blieb deshalb aus Protest fern.
Seit die SF die Wahlen im Mai vergangenen Jahres gewonnen hat, boykottiert die probritische Democratic Unionist Party (DUP) das Parlament. Eine Frist für Neuwahlen ließ Heaton-Harris Ende Oktober verstreichen. Eine weiterer Stichtag am 19. Januar wird wohl ebenso ohne Konsequenzen verstreichen. Losgetreten hatte die Krise die DUP, als sie im Februar 2022 aus der Koalition mit der SF austrat. Die DUP fordert die Aufhebung der Regelungen des »Nordirland-Protokolls«, nach denen die Provinz trotz des EU-Austritts des Vereinigten Königreichs im EU-Binnenmarkt verbleibt. Die Unionisten lehnen jede Sonderstellung Nordirlands ab. Neuwahlen im Mai verschärften die Situation weiter, da bei diesen die SF erstmals in der Geschichte Nordirlands stärkste Partei wurde. Den Republikanern steht nun das Amt des Regierungschefs zu. Die DUP setzte ihren Boykott seither fort.
Im Sommer brachte die konservative Regierung von Boris Johnson einen Gesetzentwurf ins Londoner Unterhaus ein, der es britischen Ministern erlauben würde, einseitig Aspekte des »Nordirland-Protokolls« außer Kraft zu setzen. Brüssel sah dies als Bruch internationalen Rechts an. Seit Rishi Sunak in London regiert, gibt es wieder Gespräche zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU über das »Nordirland-Protokoll«. Am Montag war es sogar zu ersten Fortschritten gekommen: Die Verhandlungsteams meldeten eine Einigung hinsichtlich der Verwendung einer gemeinsamen Software zur Erfassung der aus Großbritannien nach Nordirland eingeführten Waren. Gegenüber Reuters sprach der irische Außenminister Micheál Martin am Dienstag jedoch davon, dass »immer noch sehr viel zu tun« sei, bevor es eine Einigung geben könne. Nach einem Treffen mit dem EU-Verhandlungsleiter Maros Sefcovic in Brüssel sagte Martin dem irischen Sender RTÉ: »Es bleibt schwierig, und ich habe keinen Zweifel, dass es noch viele, viele Schwierigkeiten geben wird, und beide Seiten haben gesagt, dass noch viel zu tun ist.«
Martin wird diese Woche auch Heaton-Harris in Belfast treffen. Die Gespräche in Brüssel und die Treffen in Belfast werden aber vom Ausschluss der Partei Sinn Féin von den Verhandlungen überschattet. Außenminister Cleverly gab am Mittwoch morgen an, dass SF-Präsidentin McDonald nicht an den Gesprächen teilnehmen dürfe, da sie laut London keine nordirische Politikerin sei.
In einer Stellungnahme nannte die SF den Ausschluss McDonalds eine »außergewöhnliche Wendung der Ereignisse«. Der SF-Abgeordnete für Nordbelfast, John Finucane, kommentierte auf Twitter, es sei »bizarr, die größte Partei der Insel nicht an den Gesprächen teilnehmen zu lassen«. Nachdem die unionistischen Parteien am Mittwoch ohne die beiden republikanischen Parteien SF und SDLP mit der britischen Regierung beratschlagten, trifft sich die SF statt dessen diesen Donnerstag mit dem irischen Regierungschef Leo Varadkar und dem Labour-Chef Keir Starmer in Belfast, um das weitere Vorgehen zu besprechen.
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