Schikane gegen Malocher
Von Hansgeorg Hermann
Was Frankreichs rechter Staatschef Emmanuel Macron und seine sozialdemokratische Premierministerin Élisabeth Borne wollen, ist eine »Reform« des Rentensystems, auf die Frankreichs arbeitende Bevölkerung nicht gewartet hat. Knapp 55 Prozent wollen überhaupt nichts geändert haben, meldete vor einigen Tagen das demoskopische Institut Harris Interactive, 73 Prozent sind gegen eine Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 65 Jahre. Borne wollte nun am Dienstag abend vor der Nationalversammlung verkünden, dass es doch »nur« 64 Jahre sein sollen.
Gewerkschaften, Soziologen, der staatliche Rentenrat, das Centre d’économie der Universität Sorbonne, das Observatoire français des conjonctures économiques und sogar Macrons eigenes, als eine Art Institut für den politischen Weitblick aus der Taufe gehobenes Haut-Commissariat au Plan mit seinem alten Förderer und Kumpel François Bayrou an der Spitze haben in den vergangenen Wochen und Monaten klargestellt, dass es auch anders geht. Die beiden größten Gewerkschaften – die einst kommunistische Gewerkschaft CGT, diesmal Arm in Arm mit der christlich orientierten CFDT – rechneten jüngst vor, dass allein die bisher vergeblich geforderte gleichwertige Bezahlung männlicher und weiblicher Lohnabhängiger rund fünf Milliarden Euro in die Rentenkasse spülen könnte.
In der würden – ohne »Reform« – bis 2027 rund 15 Milliarden Euro fehlen, sagt Bornes Budgetminister Olivier Dussopt. Wer soll das glauben? Die überwältigende Mehrheit sogenannter Experten, die sich seit Wochen zum Thema ausbreiten, jedenfalls nicht. Selbst eine kleine Aufstockung der von den Beschäftigten zu zahlenden monatlichen Rentenbeiträge um 0,8 Prozent würde die Kasse bis weit in die 2030er Jahre hinein füllen, versichert der Rentenrat. Das wären beim amtlichen Durchschnittseinkommen von 2.681 Euro ein Aufschlag von 28 Euro monatlich im Jahr 2027 und 336 Euro im Jahr. Deutlich weniger noch beim Mindestlohn: 14 Euro monatlich bei einem Einkommen von 1.343 Euro, ganze 168 Euro im Jahr.
Darum geht es Macron ganz offensichtlich nicht – und schon gar nicht seinen Freunden in den Chefetagen des Kapitals, denen die vergangenen drei Präsidenten, Macron an der Spitze, einen Teil der Rentenbeiträge schenkten. Bayrou gestand – zitiert in Pariser Tageszeitungen –, dass die Erhöhung der Unternehmerbeiträge »um nur einen Punkt die Rentenkasse um 7,5 Milliarden Euro« jährlich aufbessern würde. Doch wie einst die britische Premierministerin Margaret Thatcher will Macron die Malocher rannehmen und auf ihrem Rücken seine Agenda durchsetzen. Nach der schändlichen Formel: »Wer länger lebt, muss länger arbeiten!« Macron, ganz wie Thatchers bester Schüler Anthony Blair vor 16 Jahren, wird den Tag der Verkündung der »Reform« gewiss »historisch« nennen. Die arbeitende Masse und ihre Gewerkschaften sind vorbereitet, sie werden auf der Straße antworten.
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vom 11.01.2023
Die Mutter der Reformen – oder der Schlachten – hat begonnen. Als Elisabeth Borne die von Emmanuel Macron im Präsidentschaftswahlkampf versprochene Rentenreform vorstellte, eröffnete sie damit die wahrscheinlich gefährlichste Baustelle, die sie je zu bewältigen haben wird.
Um die Franzosen zu überzeugen, muss die Exekutive eine Erzählung durchsetzen, obwohl der Zweck ihrer Reform nicht immer ganz klar war. »Jeder Euro wird dazu dienen, unsere Renten zu finanzieren, nichts anderes«, betonte sie, als der Kandidat Macron zunächst die Ressourcen erwähnte, die zur Finanzierung des ökologischen Übergangs oder zur Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen freigesetzt werden sollten. Politisch organisieren sich die mächtigen Eliten, um den verschiedenen und vielfältigen Demonstrationszügen und Blockaden, die das Land erwarten, entgegenzutreten.