Putschversuch in Brasilien
Von Volker Hermsdorf
Nach dem gescheiterten Putschversuch in Brasilien hat Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva erste Konsequenzen ergriffen. »Die Angreifer werden bestraft, und wir werden auch herausfinden, wer sie finanziert hat«, kündigte er nach Besichtigung der Schäden am Sonntag abend (Ortszeit) an. Am Wochenende hatten Anhänger des faschistischen brasilianischen Expräsidenten Jair Bolsonaro nach einer zuvor im Internet unter dem Motto »Tomada de Poder« (Machtergreifung) angekündigten Demonstration in der Hauptstadt Brasília mehrere Regierungsgebäude gestürmt. Sie schlugen Türen und Fenster des Kongresses ein, zertrümmerten Abgeordnetenbüros, besetzten den Präsidentenpalast und den Obersten Gerichtshof und forderten das Militär zum Staatsstreich gegen Lula auf.
Nachdem es der Bundespolizei gelungen war, die Kontrolle über das Gelände zurückzugewinnen, wurde als eine der ersten Reaktionen der Sicherheitschef der Hauptstadt, Bolsonaros früherer Justizminister Anderson Torres, entlassen. Die Generalstaatsanwaltschaft ersuchte den Obersten Gerichtshof, Haftbefehle gegen Torres und andere Amtsträger zu erlassen, die für »Handlungen und Unterlassungen« verantwortlich seien, die zu den Unruhen geführt hätten. »Das war ein angekündigtes Verbrechen gegen die Demokratie, gegen den Willen der Wähler und für andere Interessen. Der Gouverneur und sein Sicherheitsminister, ein Anhänger von Bolsonaro, sind für alles verantwortlich, was passiert ist«, erklärte die Vorsitzende der regierenden Arbeiterpartei (PT), Gleisi Hoffmann, im Kurznachrichtendienst Twitter.
Justizminister Flávio Dino bezeichnete die Vorfälle als »Putschversuch«, und Staatschef Lula da Silva erinnerte an Äußerungen Bolsonaros, der im Falle einer Wahlniederlage – unter Anspielung auf den Angriff von Trump-Anhängern auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 – ein »schlimmeres Problem als in den USA« angekündigt hatte. »Ihr wisst, dass es Äußerungen des ehemaligen Präsidenten gibt, die so etwas ermutigt haben«, sagte Lula. Bolsonaro, der sich kurz vor dem Amtsantritt seines Nachfolgers nach Florida abgesetzt hatte, wies dessen Vorwürfe zurück. Öffentliche Gebäude zu plündern verstoße gegen »die Regeln für friedliche Demonstrationen«.
Die zunächst einhellig wirkende Verurteilung der Vorgänge durch ausländische Regierungen und Staatschefs weist bei genauerem Hinsehen feine Unterschiede auf. Während lateinamerikanische Präsidenten wie Andrés Manuel López Obrador (Mexiko), Alberto Fernández (Argentinien), Miguel Díaz-Canel (Kuba), Nicolás Maduro (Venezuela) oder beispielsweise der stellvertretende Sprecher des russischen Senats, Konstantin Kossatschow, die Ausschreitungen klipp und klar als »Putschversuch« der Rechten bezeichneten, vermieden führende europäische und US-Politiker – zumindest in ersten Stellungnahmen – den Begriff. US-Präsident Joseph Biden nannte die Ereignisse »ungeheuerlich«. Bundeskanzler Olaf Scholz, Außenministerin Annalena Baerbock und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sahen darin unisono und vage einen »Angriff auf die Demokratie«, der nicht zu tolerieren sei. Unterdessen haben das regionale Staatenbündnis »Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerikas – Handelsvertrag der Völker« (ALBA–TCP) und die aus 33 Ländern bestehende Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (Celac) vor weiteren destabilisierenden Aktionen der Rechten gewarnt.
Drei Wochen kostenlos lesen
Wir sollten uns mal kennenlernen: Die Tageszeitung junge Welt berichtet anders als die meisten Medien. Sie bezieht eine aufklärerische Position ohne Besserwisserei und wirkt durch Argumente, Qualität, Unterhaltsamkeit und Biss.
Testen Sie jetzt die junge Welt drei Wochen lang (im europäischen Ausland zwei Wochen) kostenlos. Danach ist Schluss, das Probeabo endet automatisch.
-
Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (10. Januar 2023 um 16:00 Uhr)Kann die brasilianische Demokratie nach den Unruhen standhalten? Wer ist mit wem verbündet? Ist es die Militärpolizei, die schon immer der Rechten näher stand, die die Übergriffe ermöglichte, oder ist es die Armee, die den Bolsonaristen erlaubte, tagelang vor ihrem Hauptquartier in Brasilia zu kampieren und dann ungestört zum Platz der drei Mächte zu ziehen? Die Spannungen zwischen den beiden Kräften sind offensichtlich, so dass Soldaten die Polizei am Sonntagabend daran hinderten, das Gebiet zu betreten, auf dem sich die Demonstranten versammelt hatten. Oder sollte man mit dem Finger auf die Geheimdienste zeigen, die es versäumt haben, den »Aufruf zu den Waffen« zu entdecken und zu stoppen, der seit dem 3. Januar, zwei Tage nach Lulas Amtsantritt, über WhatsApp mit dem Codenamen »Selmas Party« zur Invasion auf dem Platz einlud? In diesen Stunden ist es schwierig, sich im brasilianischen Labyrinth zurechtzufinden, vor allem unter den militärischen Organen, die die neuen Machtverhältnisse beim Übergang zu einem anderen politischen Regime ausloten. Sicher ist nur, dass Lula niemandem traut, vielleicht nicht einmal seinem neu ernannten Verteidigungsminister. Am wenigsten derjenige, der die Sicherheit im Bundesdistrikt (Df), von dem die Hauptstadt abhängt, gewährleisten sollte: Anderson Torres, ehemaliger Minister und Bolsonaro-Getreuer, der unmittelbar nach seiner Ernennung zum Sicherheitsminister des Df in die USA flog. Es ist kein Zufall, dass die erste Reaktion des Präsidenten darin bestand, die lokale Polizei zugunsten der föderalen Polizei abzulösen. Die Ereignisse vom Sonntag zeigen, dass Brasilien politisch tief gespalten ist und dass eine rechtsextreme Minderheit zur Gewalt bereit ist. Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob der Angriff vom Sonntag den Beginn eines aufkeimenden Aufstandes markiert – oder den letzten Krampf eines gescheiterten Aufstandes.
-
Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (10. Januar 2023 um 10:05 Uhr)Joe Biden hat Lula da Silva bereits mit »Unterstützung« gedroht und ihn kurzfristig nach Washington zitiert, um ihm dort die Direktiven künftiger USA-konformer Politik Brasiliens zu verkünden. Auch die übrigen westlichen Werte-Heuchler blasen unisono in das gleiche »freiheitlich-demokratische« Horn. Wer solche »Verbündete« hat, der braucht keine weiteren Feinde mehr, um politisch nicht zu überleben. – Armer Lula, armes Brasilien!
-
Leserbrief von Armin Christ aus Löwenberger Land (10. Januar 2023 um 08:47 Uhr)Ist es eine Verschwörungstheorie zu vermuten, dass die allseits bekannten Kräfte in den Putschversuch involviert sind? Den Holz-, Agrar- und Bergbaukonzernen ist doch weniger am Wohlergehen des brasilianischen Volkes gelegen als an kurzfristigen börsennotierten Profiten. An welchen Börsen werden deren Aktien gehandelt und welche Regierungen sind die Erfüllungsgehilfen dieser Konzerne?
Dieser Artikel gehört zu folgenden Dossiers:
Ähnliche:
- Rahel Patrasso/REUTERS17.04.2021
Hoffnung für Brasilien
- Adriano Machado/REUTERS27.04.2020
Brüchige Regierung
- Nelson Antoine/AP Photo/Picture Alliance19.11.2019
Lula greift wieder an