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Aus: Ausgabe vom 06.01.2023, Seite 5 / Inland
DB

»Eine leicht zu melkende Kuh«

Staatsanwaltschaft Stuttgart ermittelt wegen Betrügereien beim Bau einer ICE-Strecke. DB-Kritiker beklagen Planungsversagen
Von Ralf Wurzbacher
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Die Filstalbrücke werde zur »Filztalbrücke«, kommentiert das »Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21«

Wo Kosten am laufenden Band explodieren, laufen die Geschäfte wie geschmiert. Im Zusammenhang mit dem Bau der Filstalbrücke auf der jüngst in Betrieb genommenen ICE-Strecke Wendlingen–Ulm ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart wegen des Verdachts des gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs. Nach Recherchen des Südwestdeutschen Rundfunks (SWR) richten sich die Vorwürfe gegen sechs Mitarbeiter von sechs an dem Projekt beteiligten Firmen. Im Raum stehe der Verdacht, »dass mehr Arbeitskräfte und mehr Material abgerechnet wurden, als tatsächlich benötigt wurden«, zitierte der Sender die Fahnder am Dienstag. Dem Bericht zufolge geriet die Errichtung des Bauwerks mindestens dreimal so teuer wie ursprünglich veranschlagt. Die Deutsche Bahn (DB) als Auftraggeberin wollte sich auf Anfrage nicht zu den Ermittlungen äußern.

Immerhin: DB-eigene Unternehmen sind offenbar nicht in die Schwindeleien verstrickt. Frei von Schuld ist der Staatskonzern aber mitnichten. Der besagte Streckenabschnitt war zuletzt unter Hochdruck fertiggestellt worden, was sich prompt mit einem verpatzten Start rächte. Anfang Dezember von Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) per Jungfernfahrt eingeweiht, kam es in den ersten Tagen zu erheblichen Betriebsstörungen wegen eines fehlerhaften digitalen Leitsystems. Die verheißenen 15 Minuten Zeitgewinn auf dem Abschnitt schlagen für den Steuerzahler mit knapp vier Milliarden Euro zu Buche – doppelt soviel wie anfangs geplant. Die Filstalbrücke gilt als das »Herzstück« des Projekts, sie verbindet auf 85 Metern Höhe den Boßler- mit dem Aichelbergtunnel.

Ursprünglich sollte ihre Errichtung rund 50 Millionen Euro kosten. Vor knapp drei Jahren durch das Eisenbahnbundesamt konstatierte »Störungen im Baugrund« drohten die Realisierung erheblich zu verzögern. Ein Auftragnehmer wollte sich deshalb aus den Verträgen herausklagen. Mit ihm verständigte sich die Bahn auf eine sogenannte Cost-Plus-Fixed-Fee-Regelung (CPFF), wonach die Kalkulation offengelegt werden und die Eröffnung planmäßig zum Jahresende 2022 erfolgen müsse. Im Gegenzug wurden aus dem Bundeshaushalt weitere 94,1 Millionen Euro lockergemacht, womit die Kosten auf 161 Millionen Euro stiegen, darunter zehn Millionen Euro als Gewinnzuschlag für das fragliche Unternehmen. Das reichte dem wohl nicht: Der SWR gab einen Insider mit der Vermutung wieder, die CPFF-Vereinbarung könne dazu beigetragen haben, dass die Firma Scheinkosten in noch unbekannter Höhe abgerechnet habe, indem sie die Bautagebücher manipulierte.

Die Filstalbrücke werde zur »Filztalbrücke«, kommentierte das »Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21« am Mittwoch in einer Medienmitteilung. Den Bahn-Kritikern lagen schon vor vier Jahren Hinweise auf eine falsch dimensionierte Armierung der Brücke vor, wodurch bei sich begegnenden Zügen und starkem Seitenwind statische Probleme auftreten könnten. Die notwendig gewordenen »hochkomplizierten Nacharbeiten« seien ein typischer Fall von »Planungsversagen«, befand Bündnissprecher Dieter Reicherter. Der dadurch entstandene Zeitdruck habe geradezu dazu eingeladen, sich auf Kosten des Steuerzahlers zu bereichern. »Denn wer um jeden Preis zur Selbstbestätigung ein Erfolgserlebnis benötigt, ist eine leicht zu melkende Kuh.«

Den früheren Richter am Landgericht Stuttgart erinnern die Vorgänge an die weiterhin ungeklärten Korruptions- und Betrugsvorwürfe beim »S 21«-Projekt. Die britische Financial Times hatte im November 2021 unter Berufung auf zwei DB-Mitarbeiter berichtet, dass nicht erbrachte Leistungen in der Größenordnung von 600 Millionen Euro und tatsächlich erbrachte Leistungen zu überhöhten Preisen in Rechnung gestellt worden seien. Angesichts der absehbar nie mehr endenden Probleme mit »S 21« und der Neubaustrecke müsse »jetzt die Blockade gegen die Diskussion von Alternativen aufgegeben werden«, forderte Reicherter.

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  • Leserbrief von Peter Müller aus Stuttgart ( 6. Januar 2023 um 09:50 Uhr)
    Bezüglich des Zeitdrucks beim Bau der Filstalbrücke ist eines wohl in Vergessenheit geraten. Bis 2019 stand unter der Brücke am Straßenrand ein riesiges Schild, auf dem neben den beteiligten Planungs- und Baufirmen noch folgendes zu lesen war: »Fertigstellung 2018, Inbetriebnahme 2021«. Dennoch sagten sowohl Bahnchef Richard Lutz als auch der Vorsitzende des Vereins Bahnprojekt Stuttgart-Ulm, Bernhard Bauer, in ihren Reden anlässlich der Eröffnung der Neubaustrecke in Ulm am 9. November, dass das Projekt Filstalbrücke planmäßig fertiggestellt wurde. Aber so ist das leider immer bei der Bahn. In Stuttgart zum Beispiel behaupteten die gleichen Herren, dass man die (bisher) 60 Kilometer Tunnel ohne Probleme gebohrt habe. Abgesehen davon, dass es in Untertürkheim zu einer Absenkung der S-Bahn-Gleise kam und in Obertürkheim tausende Kubikmeter Wasser in den Tunnel eindrangen, in einem Tunnel ein Feuer ausbrach und auch das tückische Gestein Anhydrit zu großen Problemen führte, hinkt man auch hier dem Zeitplan mächtig hinterher, denn eigentlich sollte das gesamte Projekt Stuttgart 21 bereits 2021 in Betrieb gehen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gottfried W. aus Berlin ( 6. Januar 2023 um 07:46 Uhr)
    Seitdem Pofalla die Oberaufsicht über den ehemaligen Staatsdienstleister Bahn übernommen hat, scheint der Zug in Richtung Schmierstoffe unterwegs zu sein. Wo möchte mensch anfangen, wo aufhören mit den Ähnlichkeiten zu Banden und berufsmäßig betriebener organisierter Kriminalität? Es ist nicht nur die Bahn oder das »Gesundheitswesen«, Pharma und COVID, mit dem sich auch diese Zeitung am Nasenring führen lässt. Militär, da freut es mich, wenn das Geld in einem Haufen Schrott endet und nicht in russischen Laibern. Die Finanzämter sind das Inkasso der Regierung. Steuern unsere Schutzgelder.

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