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Aus: Ausgabe vom 05.01.2023, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Die Schlafwandler

Rührende Zeugnisse aufgeregter Zeiten – Mikhaël Hers’ vierter Spielfilm »Passagiere der Nacht« über das Paris der frühen 80er Jahre
Von Holger Römers
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Charlotte Gainsbourg (l.) als Elisabeth und Emmanuelle Béart als Vanda Dorval in »Passagiere der Nacht«

Noch bevor die Titelsequenz von »Passagiere der Nacht« beginnt, markiert eine Einblendung das Datum 10. Mai 1981. Der Tag, an dem François Mitterrand erstmals zum Präsidenten Frankreichs gewählt wurde, weshalb in teilweise dokumentarischen Impressionen ausgelassen feiernde Menschen auf abendlichen Pariser Straßen zu sehen sind. Unter diesen Passanten befinden sich die Hauptfiguren des Films, Élisabeth (Charlotte Gainsbourg) und ihre beiden Kinder, Matthias (Quito ­Rayon-Richter) und Judith (Megan Northam), sind auf dem Nachhauseweg zu einer Wohnung, die unlängst frisch bezogen wurde, wie herumstehende Kartons ahnen lassen. Talulah (Noée Abita) kommt indes gerade neu in der Hauptstadt an, wie ihr Rucksack und ihr faszinierter Blick auf den Linienplan der Métro deutlich machen.

Allerdings sagen die vier in den Anfangsminuten kein Wort und tun auch nichts, was für die Handlung relevant wäre. Die beginnt erst mit einer weiteren Einblendung, die einen Zeitsprung von drei Jahren vermerkt. Um so mehr fällt deshalb auf, wie gezielt Regisseur Mikhaël Hers, als Koautor auch fürs Drehbuch mitverantwortlich, den Stoff seines vierten Langspielfilms mit der ersten Amtszeit eines sozialistischen Präsidenten im Nachkriegsfrankreich verbindet. Folgerichtig bringt die auf einen weiteren Zeitsprung folgende abschließende Episode auch die nächste Wahl fürs wichtigste Staatsamt zur Sprache, als Élisabeth und ihre Kinder sich 1988 zur Stimmabgabe vorm Wahllokal treffen. Dabei ergibt sich der subtile Reiz dieses traumwandlerischen Films jedoch aus der unaufgelösten Ambivalenz, die verschiedene Tonlagen den jeweils angedeuteten gesellschaftlichen Veränderungen jener Jahre zuschreiben.

Als ihre Ehe 1984 in die Brüche geht, gerät Élisabeth in einen finanziellen Engpass. Wie wir erfahren, hat sie Psychologie studiert und vorübergehend als Sekretärin gearbeitet, bis die Kinder kamen und eine schwere Krankheit dann die Wiederaufnahme der Erwerbsarbeit verhinderte. Ihr Vater (Didier Sandre) versucht sie aufzumuntern, indem er auf »neue Sektoren« verweist, die auf dem Arbeitsmarkt entstünden und keine Berufserfahrung, sondern »Mitdenken und Sensibilität« verlangten. Aber einen Bürojob verliert Élisabeth so schnell, wie sie ihn gefunden hat, woraufhin sie sich bei einer nächtlichen Radiosendung bewirbt, zu deren Hörern sie wegen ihrer Schlaflosigkeit seit Jahren gehört.

Aus dem ersten Gespräch mit Moderatorin Vanda (Emmanuelle Béart) geht bezeichnenderweise hervor, dass Élisabeth »zu allem bereit« und »die Bezahlung leider mies« ist, weshalb zusätzlich zur Redaktionsassistenz bald ein vorübergehender Zweitjob als Bibliothekarin notwendig wird. Im elliptischen, zunehmend lockeren Fluss der Handlung zeichnet sich dennoch eine bescheidene Radiokarriere ab, die zudem allmählich von neuem Liebesglück ergänzt wird. Der Protagonistin scheint jene individuelle Emanzipation zu gelingen, die der (Links-)Liberalismus in den letzten Jahrzehnten immer fordernder als einzig gültige Veränderung anpreist.

Allerdings lässt Hers offen, ob derweil der Subplot um Talulah in eine persönliche Katastrophe mündet. Élisabeth begegnet der jungen Frau als eingeladener Zuhörerin, die sich im Studio Vandas Fragen stellt. Da sie immer noch keine feste Bleibe hat, wird Talulah von Élisabeth kurzerhand in der Dachkammer einquartiert, die sonst als Abstellraum dient. Diesem Akt der Nächstenliebe misst der literarisch ambitionierte Matthias eine politische Dimension zu, wenn er der Skepsis seiner parteipolitisch aktiven älteren Schwester mit dem Vorwurf begegnet, »links reden, aber rechts leben« zu wollen. Doch nicht nur Matthias’ Verliebtheit erschwert Talulah das Bleiben, sondern wohl auch die Drogensucht, die sich nach dem vorübergehenden Verschwinden der jungen Frau offenbart.

Statt aufgekratzter Erbaulichkeit dominiert in »Passagiere der Nacht« eine bittersüße Nostalgie, die sich nur in zweiter Linie aus zeittypischen Popsongs oder dem Production Design speist, das einen Großteil des Geschehens vor der in den 1970er Jahren entstandenen Hochhauskulisse des 15. Arrondissements ansiedelt. Zwar nimmt Hers gelegentliche Kinobesuche seiner Figuren zum Anlass, Bilder aus zeitgenössischen Filmen von Éric Rohmer (»Vollmondnächte«, 1984) und Jacques Rivette (»Le pont du Nord«, 1981) einzuspielen. Vor allem aber streut der 1975 geborene Regisseur immer wieder banale dokumentarische Straßenimpressionen zwischen die Szenen seiner fiktiven Handlung, was die Erinnerung an die eingangs erwähnten ersten Dokumentaraufnahmen des Films wachhält: rührende Zeugnisse einstiger Hoffnung, dass gesellschaftliche Veränderung sich durchaus nicht auf eine individuelle »Neuerfindung« beschränken müsste.

»Passagiere der Nacht«, Regie: Mikhaël Hers , Frankreich 2022, 111 Min., Kinostart: heute

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