»Das Urteil ist ein Freifahrschein für Nazis«
Interview: Kristian Stemmler
Mitte Dezember 2022 ist der Neonazi Tilo P. vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten vom Vorwurf der Beihilfe zur Brandstiftung freigesprochen worden. Nach Ansicht des Gerichts sei ihm nicht nachzuweisen, dass er in der Nähe war, als Ihr Auto im Februar 2018 einem Brandanschlag zum Opfer fiel. Hat Sie das Urteil überrascht?
Nein. Ich empfand den Prozessverlauf insgesamt als sehr fragwürdig. Alle Indizien sprachen dafür, dass hinter diesem und anderen Anschlägen nicht nur die beiden Angeklagten standen, sondern eine Gruppe von Personen, die organisiert Menschen über Jahre hinweg terrorisiert haben. Durch diesen Prozess gegen Tilo P. und Sebastian T. wurde der Eindruck erweckt, es gehe um zwei Einzeltäter. Angesichts der Verstrickungen von Behörden und Skandale, die es im »Neukölln-Komplex« gegeben hat, war dieser Prozess von vornherein zum Scheitern verurteilt. Und was soll ich von einem Gerichtsverfahren halten, in dem die Richterin von vornherein meine Betroffenheit relativiert hat, indem sie mich nicht als Nebenkläger zulassen wollte und ich das durch die nächste Instanz durchsetzen musste?
Das Urteil blieb weit hinter der Forderung der Generalstaatsanwaltschaft zurück, die dreieinhalb Jahre Haft für P. verlangt hatte. Im Tagesspiegel erklärte ein Vertreter der Behörde kurz danach, man habe die rechte Szene jetzt besser im Blick. Ist das glaubhaft?
Ich glaube schon, dass die Generalstaatsanwaltschaft und die anderen beteiligten Institutionen nicht mehr über uns hinweg schauen konnten, weil wir den Druck erhöht haben. Durch gute Öffentlichkeitsarbeit, aber auch durch Proteste auf der Straße, die wir als Betroffene gemeinsam mit antifaschistischen und antirassistischen Bewegungen organisiert haben. Die strukturellen Probleme bestehen aber weiterhin, und die müssen angegangen werden.
Was meinen Sie damit?
Statt an der Einzeltäterthese festzuhalten, muss geschaut werden, welche Leute in den »Neukölln-Komplex« verstrickt sind, wer dazu beigetragen hat, dass die Täter geschützt wurden. Die Generalstaatsanwaltschaft hat erklärt, Berufung einlegen zu wollen.
Das hat sie mittlerweile getan. Aber das heißt nicht, dass sie nicht noch einen Rückzieher machen kann. Und der Prozess ist ja mit dem Freispruch von Tilo P. noch nicht zu Ende. Sebastian T. steht noch weiterhin vor Gericht. Ich fand es im übrigen nicht nachvollziehbar, warum die Richterin diese beiden Fälle voneinander getrennt hat, und gehe davon aus, dass nach Tilo P. auch Sebastian T. freigesprochen wird.
Dem »Neukölln-Komplex« werden zwischen 2012 und 2018 mindestens 23 Brandstiftungen und 50 weitere Straftaten vornehmlich gegen im Bezirk bekannte Antifaschisten zugerechnet. Hat sich durch den öffentlichen Druck und den Prozess etwas in Neukölln verbessert?
Ich würde sagen, es hat sich ein Stück weit etwas verändert. Der Druck auf die Sicherheitsbehörden hat so stark zugenommen, dass deren Präsenz in Süd-Neukölln erhöht wurde. Seitdem gab es aber mehr Brandanschläge in Nord-Neukölln, von denen allerdings nicht immer klar ist, ob sie einen rechten Hintergrund haben. Es wird da zu wenig ermittelt, um das aufzudecken. Wir haben auch weiterhin Angriffe in der Hufeisensiedlung. Ich würde sagen, die Gefahr ist nach wie vor sehr hoch. Und vor allem wird sie mit dem Freispruch gegen Tilo P. eher noch größer, weil das Urteil ein Freifahrtschein für Nazis ist – dass sie Menschen terrorisieren und ihrer menschenverachtenden Ideologie freien Lauf lassen können, und dafür nicht mit Konsequenzen rechnen müssen.
Nur durch Glück griffen die Flammen Ihres brennenden Autos nicht auf eine Gasleitung des Wohnhauses Ihrer Familie über. Haben Sie noch die Hoffnung, dass die Verantwortlichen für den Brandanschlag bestraft werden?
Ich habe da keine Hoffnung, vor allem weil eben nicht berücksichtigt wird, dass wir es da mit einem größeren Täterkreis zu tun haben. Es sind mehr als die zwei, die auf die Anklagebank gehören. Der Kreis der Täter reicht bis hinein in staatliche Behörden. So lange das nicht gesehen wird, habe ich keine Hoffnung, dass der rechte Terror in Neukölln aufhört.
Ferat Kocak ist Sprecher für antifaschistische Politik der Fraktion Die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus und Nebenkläger im Prozess um die als »Neukölln-Komplex« bekannte Anschlagsserie.
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