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Aus: Ausgabe vom 31.12.2022, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Ein Quentchen Lasterhaftes

Zum 70. Geburtstag des 2016 verstorbenen Schriftstellers Wolfgang Welt
Von Frank Schäfer
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Schizophrener Beziehungszauber: Wolfgang Welt (31.12.1952–19.6.2016)

Wolfgang Welt hinterließ sofort einen bleibenden Eindruck. »Nach Anhören der Möchtegernschwermetaller UFO habe ich Blei in den Füßen«, schimpft er in einer Sammelbesprechung im Musikexpress vom April 1983. »Wenn dieser verdammte Sänger Phil Mogg doch nur ein Körnchen Gold in der Stimme hätte – ich ließe mit mir handeln! Wenn Michael Schenker noch bei UFO der Rettungsanker wäre, ich hätte mir ›Mechanix‹ zweimal angehört! … UFO konnten (nicht nur) meines Erachtens noch nie was und werden nie in die Erste Bundesliga kommen. Untalentiert geboren und ›Mechanix‹ dazugelernt!«

Ich weiß noch genau, wie angefixt ich davon war. Seine unbekümmerte Großmäuligkeit war meiner intellektuellen Disposition damals offenbar gemäß. Loben konnte er aber auch, wie der zweite Teil der Kritik zeigt, der Krokus mit warmen und wahren Worten bedenkt. Nur leider reiche ihr Album »One Vice at a Time« »nicht an die Klasse der schlechtesten Nummern von Motörhead ran. Irgendwie fehlt doch zum perfekten Heavy-Metal-Genuss noch ein Quentchen mehr Lasterhaftes und die Untugend der Selbstironie.« Das war schon fast ein Aphorismus.

Es spielte überhaupt keine Rolle, ob man seinem Urteil nun zustimmte oder nicht. Die Haltung war relevant. Hier gab einer den Respekt vor den Rockstars auf und machte, wie Lester Bangs vor ihm, den Kritiker zum eigentlichen Chef im Ring. Eine Weile durfte Welt seine Frechheiten unter die Leute bringen, in den Ruhrpott-Zeitschriften Marabo und Überblick vor allem, bald aber auch im Musikexpress und der Rowohlt-Reihe »Rock Session«. Zum Verdruss von Heinz Rudolf Kunze, Grönemeyer, Westernhagen und vielen anderen. Aber er will mehr, den großen Roman, und während er von Interview zu Interview, von Konzert zu Konzert hetzt, manisch Platten- und Buchbesprechungen raushaut, immer am Limit und kurz vor Redaktionsschluss, fängt er sich wohl infolge der mentalen Überforderung eine »schizophrene Psychose« ein.

In einigen Texten scheint sich die Krankheit schon anzukündigen. Was man als ironisch verspielten Größenwahn lesen kann, sind vielleicht bereits Ausläufer eines schizophrenen Beziehungszaubers. So stenographiert er in einer wirr-egozentrischen Amsterdam-Reportage alles mit, was ihm durch die Rübe rauscht, gezwungenermaßen, denn für sein Interview mit Lou Reed kommt er einen Tag zu spät, er steht also ohne Story da. Aber diese Situation enthemmt ihn auch. Endlich ist er nicht mehr nur der Kritiker, der mehr oder weniger impertinente Fragen stellt, sondern selbst der Mittelpunkt des Universums. Alles um ihn herum scheint bereits einen verborgenen Sinn zu haben und sich geheimnisvoll auf ihn zu beziehen. »Warum war ich eigentlich in Amsterdam gewesen? Ach ja, wegen Lou Reed … Wir schreiben noch immer den 26. Februar 82. Mein Kollege und Guru Hermann Lenz wird heute 69 in Schwabing. Er bezeichnete mich schon vor Jahren als Wilhelm Meister. Ich habe zwei Bekannte, die Charlotte heißen, eine andere wurde Manon getauft. Wir schreiben das Goethe- und James-Joyce-Jahr. Und das Jahr der Wiedergeburt von Lou Reed.«

Welt landete schließlich in der Psychiatrie und hatte hier endlich die Muße, seinen Roman anzufangen. »Peggy Sue« ist auch nur eine hochoktanige, vollmundige, grandiose Rockreportage in Buchlänge, nur musste er sich jetzt nicht mehr die Aufmerksamkeit mit einem anderen Star teilen. Welt verdingte sich in der Folge als Nachtwächter und schrieb jahrelang kaum etwas, allenfalls zwei, drei Stories und Artikel für die alten Bekannten. »Ich muss nicht schreiben«, sagte er mir mal spöttisch. Aber das war gelogen. Eigentlich hatte er stets den nächsten Roman in Planung, wusste auch schon den Titel. Er brauchte immer nur drei, vier freie Wochen und einen Vorschuss, um noch ein paar Kapitel aufs Blatt zu delirieren.

Dass man ihn im Zuge der Popliteratur-Hausse Ende der 90er als eine Art Wegbereiter wiederentdeckte, war ein glückliches Missverständnis, das ihn über Umwege doch noch bei Suhrkamp landen ließ. Aber mit der gequälten Langeweile der Kinder aus gutem Haus hatte er rein gar nichts zu tun. Hier schrieb ein Prolet, der den Leser zu sich hinunterzog in die Tristesse seiner Vita, in der gelegentliche Suffexzesse, ein seltener Fick oder der alljährliche Buchmessenausflug nach Frankfurt schon zu den Erlebnishöhepunkten zählten. Und zwischen den Zeilen spürte man eine Sehnsucht, die einem die Brust zuschnürte. Trotzdem, auch das las man in jedem seiner Bücher, und das merkte man, wenn man mit ihm durchs »Bermuda Dreieck« defilierte und er seine Buddys begrüßte, schien er sich in seinem Bochumer Kiez zu Hause zu fühlen.

Wer ihm begegnete, sah sofort, was die Psychopharmaka mit ihm anstellten, an deren Spätfolgen er 2016 starb. Dass er diesem somnambulen Zustand dennoch immer mal wieder einen neuen Roman abtrotzte, zuletzt »Doris hilft« (2009) und »Fischsuppe« (2014), ist eine Energie- und Willensleistung, die gar nicht hoch genug einzuschätzen ist. Silvester wäre er 70 Jahre alt geworden.

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