»Geheimhaltung muss aufgehoben werden«
Interview: Tim Krüger
Am 23. Dezember fand in Paris ein bewaffneter Angriff auf das kurdische Kulturzentrum statt, das dem Demokratischen Rat der Kurden in Frankreich (CDK-F) angehört. Können Sie kurz zusammenfassen, was passiert ist?
Am 23. Dezember hat ein Schütze drei Menschen erschossen und drei weitere verwundet. Bei den Getöteten handelt es sich um die kurdische Politikerin Emine Kara – auch bekannt unter ihrem kurdischen Namen Evin Goyi –, um den Musiker Mir Perwer und um Abdurrahman Kizil. Auch wenn gesagt wird, dass es sich bei dem Attentäter um einen rassistischen Einzeltäter handeln soll, so stellt diese Attacke für die Kurden einen Terroranschlag dar.
Der Angreifer war nach bisherigen Erkenntnissen ein Franzose, der bereits durch verschiedene rassistisch motivierte Gewalttaten aufgefallen ist. In den letzten Tagen hieß es immer wieder, dass möglicherweise der türkische Geheimdienst hinter dem Angriff steckt. Was denken Sie darüber?
Die Kurden, die hier friedlich in Frankreich leben, haben viele Fragen. Sie wollen wissen, warum diese Person ausgerechnet das kurdische Kulturzentrum und besonders unser Mitglied Evin Goyi angegriffen hat. Evin Goyi war eine der Repräsentantinnen der kurdischen Bewegung in Frankreich. Die Kurden in Paris stellen nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung dar. Warum greift der Attentäter ganz besonders kurdische Menschen an? Da der Täter bis zum 11. Dezember eine einjährige Haftstrafe abgesessen hat, vermuten wir, dass er im Gefängnis zu seiner Tat bewegt wurde. Die französischen Behörden müssen unbedingt seine Beziehungen und Kontakte während der Haftzeit näher untersuchen. Möglicherweise hat er Beziehungen zu ausländischen Nachrichtendiensten oder dschihadistischen Gruppen gehabt. Auch die Möglichkeit von Beziehungen zu rechtsradikalen türkischen Organisationen sollten die französischen Behörden in die Ermittlungen einbeziehen.
Auch bei den Morden an der Mitbegründerin der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, Sakine Cansiz, und zwei weiteren kurdischen Aktivistinnen im Januar 2013 in Paris gingen die Behörden lange Zeit von einem anderen Motiv aus. Erst nach Jahren wurde die Täterschaft des türkischen Geheimdienstes nachgewiesen. Was denken Sie darüber?
Drei Frauen, die Teil der kurdischen Freiheitsbewegung waren, Fidan Dogan, Leyla Söylemez und Sakine Cansiz, wurden damals in den Räumen des Kurdischen Informationszentrums ermordet. Nach den Angriffen wurde zuerst behauptet, der Täter sei psychisch labil und krank, danach hieß es, es würde sich um eine »interne Abrechnung« innerhalb der PKK handeln. Erst nach Untersuchungen kurdischer Journalisten wurde den Hinweisen nachgegangen, und es konnten die Verbindungen zum türkischen Geheimdienst MIT aufgedeckt werden.
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den Morden von 2013 und 2022?
Für uns sind beide Ereignisse in der Tat miteinander verbunden. Es ist wichtig, den Terroranschlag gegen das Kurdische Informationszentrum 2013 zu beleuchten, denn die Angriffe damals und heute haben sich im selben Viertel ereignet. Um herauszufinden, wer hinter dem jüngsten Angriff steckt, müssen die Verantwortlichen für die Morde vom 9. Januar 2013 aufgedeckt werden.
Aber die Ermittlungsakten dazu werden weiterhin unter Verschluss gehalten?
Ja. Aber jetzt fordern viele französische Organisationen, dass die Geheimhaltung der Akten aufgehoben werden soll. Das ist auch eine der Hauptforderungen der Kurden in Paris.
Zum zehnten Jahrestag der Morde an den drei Kurdinnen in Paris haben Sie Gedenkveranstaltungen geplant. Was steht an?
Gerade an dem Tag, als die jüngsten Morde geschahen, war in unserem Kulturzentrum eine Vorbereitungssitzung für die Aktionen im Januar geplant. Die kurdische Frauenbewegung wird sowohl eine Großdemonstration am 7. Januar organisieren als auch eine Gedenkveranstaltung am 9. Januar, die die Bürgermeisterin von Paris ausrichten wird. Nach den Morden vom 23. Dezember werden diese Veranstaltungen dieses Jahr um so wichtiger sein. Die Kurden in Frankreich sind heute täglichen Drohungen und Gewalt ausgesetzt und die französische Regierung muss für ihre Sicherheit sorgen.
Baran Gündüz ist der Verantwortliche für Außenbeziehungen des mit zwei Dutzend Vereinen in größeren Städten vertretenen Demokratischen Rates der Kurden in Frankreich (CDK-F).
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