Smart Casual
Von Detlef Kannapin
Claudine I., die Majorin: Na, meine Damen und Damen, wie haben wir das gemacht?
Der Fücksilier: Wir müssen mehr machen!
Claudine I.: Gemach. Alles zu seiner Zeit. Immerhin haben wir von der Abteilung Krisenprävention folgende Ergebnisse vorzuweisen: Die Zeitenwende ist vollzogen. Wir haben einen Aggressor und einen Freiheitskorridor. Wir haben eine pazifistische Rüstungsindustrie. Die OUN ist die neue UNO. Die Heimatfront ist begradigt. Und die Sowjetunion für alle Menschheitsverbrechen seit 1848 verantwortlich.
Claudine II., die Weberin: Ja. Und meine Forschungen zur gleichen Schuldlast von Stalin und Hitler am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges haben mitgeholfen. Aus Quellen der SS-Leitstellen.
Der Bundeswehrhistoriker: Darüber müssen wir uns mal unter vier Augen unterhalten, Mausebärchen.
Claudine II.: Hahahaha.
Die Ausschussvorsitzende: Ich sage nur drei Worte: »Himars«, »Patriot«, »Stinger«. Das ist das Evangelium unserer Tage.
Der ehemalige Bundespräsident: Das kann ich aus intimster Kenntnis nur bestätigen. Ich selber würde mich sofort an diesen modernen Gerätschaften ausbilden lassen.
Der Bundeswehrhistoriker: Dazu reicht es nicht, ungedient zu sein. Aber Ausbildung ist immer gut. Ich plädiere sogar für Erteilung der Staatsbürgerschaft für alle Nicht-Deutschen, die im Einsatz vorne laufen.
Der Fücksilier: Wir müssen mehr machen!
Claudine I.: Vorläufig müssen wir vor allem die Stimmung hochhalten. Es reicht ja nicht, einfach nur Krieg zu führen. Wir müssen zielgenau wissen, wo. Und dann brauchen wir alle Kräfte. Ganze Generationen sind umzuerziehen.
Der Dichter: Ich will nicht frieren für die Freiheit.
Der ehemalige Bundespräsident: Tja, Pech. Keiner soll hungern, ohne zu frieren. Winter im Sommer, Frühling im Herbst. Sommerschnee und Winterhitze. Der Kapitalismus ist die Erlösung.
Der Dichter: Ich will trotzdem lieber nicht.
Die Dichterin: Das müssen Sie aber. Denn: Wir brauchen für die Zukunft ein Frühstück ohne Russland. Der Aggressor spricht nicht unsere Sprache. Wir sind die Freiheit, also müssen wir das wollen, was wir müssen.
Der Fücksilier: Wir müssen mehr machen!
Der Abgeordnete: Wir von der konformistischen Opposition sind dabei, hier konstruktiv mitzuwirken. Vor der Lebensleistung unserer Kameraden ziehe ich meinen Hut. Wir haben nur ein Problem: die Stimmung unserer Wähler.
Die Ausschussvorsitzende: Was soll sie denn kosten, die Stimmung Ihrer Wähler?
Der Abgeordnete: Lassen Sie es mich so sagen: Uns würde schon reichen, wenn wir im nächsten Parlament wieder mit dabei wären.
Die Ausschussvorsitzende: Das können und wollen wir nicht garantieren.
Der Abgeordnete: Schade.
Claudine II.: Aber man sollte nicht zu hart mit unserer Opposition ins Gericht gehen.
Der Abgeordnete: Wir könnten doch unser Programm dahingehend ausrichten: Nicht mit uns. Aber wenn doch, dann nicht ohne uns! Sie haben alle Freiheiten …
Der ehemalige Bundespräsident: (singt) Freiiiiheit, Freiiiiheit – ist das Einzige, was zählt …
Der Bundeswehrhistoriker: Da bin ich skeptisch. Die Toten werden meist nach Feierabend gezählt.
Der Fücksilier: Wir müssen mehr machen!
Die Kolumnistin: Ist das nun ein neuer Kalter Krieg?
Claudine II.: Ja und nein. Einerseits und andererseits. Die einen sagen so, und die anderen so.
Der Bundeswehrhistoriker: Welch eine Analyse! Das ist ja nahezu dialektisch.
Claudine II.: Dia… was?
Der Bundeswehrhistoriker: Tja, Mausebärchen, da verweise ich doch nochmal auf unser Vieraugengespräch. Da können wir das vertiefen.
Claudine II.: Hahahaha.
Claudine I.: Zurück zum Kern: Es ist ein Evangelium verkündet. Daher müssen wir dafür sorgen, dass der Ruf, aus dem Krieg Gewinn zu schlagen und kein verlässlicher Partner zu sein, um 180 Grad gedreht wird.
Claudine II.: Nehmen wir doch das Bild von der Badekur. Das ist auch historisch verlässlich.
Der ehemalige Bundespräsident: Mit warmem Wasser?? Nicht mit mir.
Der Bundeswehrhistoriker: Das geht auch lau. Kanzler wissen das.
Die Ausschussvorsitzende: Wie auch immer. Mir ist egal, wer unter mir Kanzler ist.
Der Fücksilier: Wir müssen mehr machen!
Claudine I.: Tun wir doch. Gott, so ein Krieg ist etwas Interessantes!
Der Redakteur: Ich distanziere mich von Begriffen wie Heimatfront, Imperialismus, Sozialismus und Emanzipation. Ich befürworte alle Entscheidungen der Regierung, unterstütze die konformistische Opposition und bin für das Drei-Prozent-Ziel.
*
Das Gespräch fand am 17. Dezember 2022 im Seitenflügel des Lorenz-Adlon-Esszimmers hinter verschlossenen Türen statt. Kleiderordnung: Smart Casual. Menüfolge: International. Die grellsten Erfindungen sind Zitate.
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