Gebremste Feierlaune
Von Arnold Schölzel
Am 8. Dezember hatte die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) in den klassizistischen »Kolonnensaal« des »Hauses der Gewerkschaften« in Moskau eingeladen. Es war die bisher repräsentativste Veranstaltung zum 100. UdSSR-Jahrestag am 30. Dezember. Landesweit – von Chabarowsk im Fernen Osten bis zum 10.000 Kilometer entfernten Kaliningrad im Westen – organisierten regionale und örtliche KPRF-Organisationen Ähnliches: In der Staatsphilharmonie der Republik Tuwa im südsibirischen Kysyl wurde ebenso in Anwesenheit der Regions- und Stadtobrigkeit gefeiert wie im zentralrussischen Rjasan. Wolgograd holte die restaurierte Skulptur »Hammer und Sichel« vom Stadtrand ins Zentrum, Ausstellungen gleichen Titels öffneten feierlich soeben im Kreismuseum der nordrussischen Kleinstadt Kotlas und im südlichen Toljatti mit den Lada-Werken. Wissenschaftlich-politische Konferenzen mit renommierten Forschern gab es u. a. in Sankt Petersburg und in Nischni Nowgorod .
Die Zentralregierung legt den Aktivitäten, die mit Protest gegen die wirtschaftlichen und sozialen Zustände verbunden werden, keine Hindernisse in den Weg. Der Kulturfonds des Präsidenten sponserte sogar eine Ausstellung des russischen Künstlerverbandes, die seit dem 17. November im Museum für zeitgenössische Geschichte in Moskau zu sehen ist. Ihr Titel: »Die unzerstörbare Union. Zum 100. Jahrestag der Gründung der UdSSR: 1922–2022«. Das Thema bestimmt, besagt ein Überblick, das öffentliche Leben im ganzen Land. Den KPRF-Vorschlag, den 30. Dezember zum nationalen Feiertag zu machen, lehnte der Kreml allerdings höflich ab, zumal die KP erklärt hatte: »Die historischen Umstände verlangen zwingend, dass wir anfangen, von der UdSSR zu lernen.«
Soweit sind Wladimir Putin und seine Leute sowie die Regierungspartei »Einiges Russland« nicht. Sie sind damit mächtig geworden, kein gutes Haar an Oktoberrevolution und UdSSR zu lassen und nur den Sieg über den Faschismus nicht anzutasten. Motto: Revolution ist schlecht, starker Staat und Militär gut. Immer mehr russische Bürger vergleichen aber offenbar ihre miese Lage nach rund 30 Jahren Kapitalismus mit der in der Sowjetunion. Bei Arbeit, Bildung, Gesundheitswesen, aber auch bei internationalen Durchbrüchen in Wissenschaft und Technik fällt das Urteil nicht schwer. Hinzu kommen die schweren Mängel, die in der Militäraktion gegen Kiew zutage traten und jetzt Putin selbst auf den Plan riefen.
Der Ton wird schärfer. Beispiele dafür sind die Rede des KPRF-Vorsitzenden Gennadi Sjuganow am 22. Dezember in der Duma und ein Text, den das Mitglied des Präsidiums und Sekretär des ZK der KPRF, Sergej Obuchow, am 23. Dezember auf der KPRF-Internetseite veröffentlichte. Er führt dort die Lage der Streitkräfte auf die »Serdjukowschtschina« zurück. Putin hatte 2007 zum Entsetzen der Militärs den Steuerfachmann Anatoli Serdjukow zum Verteidigungsminister ernannt. Der versuchte, die Armee nach allen idiotischen Regeln des Neoliberalismus umzukrempeln: Dienstleistungen auslagern, d. h. entsprechende Einheiten auflösen, dabei Beratungsfirmen und deren Kundschaft riesige Aufträge zuschanzen. Er bestellte für Milliarden Euro Waffen im Ausland, weil angeblich billiger – z. B. Hubschrauberträger vom Typ »Mistral« in Frankreich. Die ersten zwei von vier wurden nur deswegen nicht ausgeliefert, weil sich die Krim 2014 Russland anschloss und der Westen Sanktionen erließ. 2010 traten russische Generäle sogar öffentlich gegen den Minister auf. Der Marschall der Sowjetunion Dmitri Jasow (1924–2020) spottete im August 2014: »›Top‹-Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow hat einen Harem mitgebracht und die Armee fast zerstört.« Das »Topminister« stammte von Dmitri Medwedew, von 2008 bis 2012 Präsident, heute stellvertretender Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrats. Serdjukow wurde Ende 2012 entlassen. Was er angerichtet hatte, beziffert Obuchow auf umgerechnet rund 40 Millionen Euro Schaden. Serdjukow hatte zudem für seine Geliebte und sonstigen Anhang weitere Dutzend Millionen abgezweigt. Serdjukow sei aber »in eine bequeme Position im militärisch-industriellen Komplex versetzt« worden, und die zehn Jahre seines Nachfolgers Sergej Schoigu seien »eher eine kosmetische als eine grundlegende Reparatur«. Jeder Versuch der KPRF, in der Duma eine Untersuchung einzuleiten, wurde von »Einiges Russland« blockiert. Nun, so Obuchow, sollten die eklatanten Versäumnisse beseitigt werden, indem »die arme Bevölkerung jeweils eine Kopeke für Reifen und Panzer« spendet. Feierstimmung sieht anders aus.
Am 22. Dezember blickte der Vorsitzende der KPRF Gennadi Sjuganow in einer Rede in der Staatsduma Russlands auf das Jahr 2022 zurück:
Ein sehr schwieriges und anspruchsvolles Jahr geht. Sein Charakter wurde durch zwei Ereignisse bestimmt: den 100. Jahrestag der Gründung der UdSSR und die militärisch-politische Spezialoperation, die der Präsident des Landes verkündet hat. (…)
Wir glauben, dass eines der Hauptergebnisse des vergangenen Jahres ein Aha-Erlebnis ist. Zum ersten Mal haben selbst diejenigen, die sich dank der Kompradorenpolitik bereichert haben, begriffen, dass wir niemals aus dieser Systemkrise herauskommen werden, wenn es so weitergeht. Sie werden nicht gewinnen, wenn Sie nach amerikanischen Regeln spielen! Unser Sowjetland hat 1945 nur deshalb gesiegt, weil es die alten bösartigen Regeln aufgegeben hatte und sich mit Industrialisierung, bedeutender Wissenschaft, dem Bau großer Fabriken, der Beherrschung der Produktion beschäftigte und den besten Maschinenpark der Welt schuf. Aber heute produzieren wir nur fünf Prozent der Werkzeugmaschinen, die in unseren Betrieben arbeiten. Wir müssen daher dringend Maßnahmen zur Entwicklung der heimischen Industrie ergreifen. Wir haben Ihnen das »Programm des Sieges« vorgeschlagen, ein Entwicklungsbudget von 45 Billionen Rubel, zwölf Gesetze, 21 sektorale Programme und drei Programme zur Gewährleistung unserer Lebensmittelsicherheit. (…) Ich war mir sicher, dass Sie unsere Vorschläge unterstützen würden, aber Sie haben sich geweigert. (…) Warum ist das so?
In diesem Jahr haben wir fast 160 Millionen Tonnen Getreide geerntet. Großartig! Schließlich wird Getreide zur Herstellung von 250 verschiedenen Lebensmitteln verwendet. Aber kein einziges Geschäft hat die Lebensmittel um nur eine einzige Kopeke verbilligt. Hätten wir 15 Millionen Tonnen Getreide gekauft, eingelagert, den Preis festgelegt – es hätte einen Wettbewerb mit den Handelsketten gegeben, und wir hätten die Sache geregelt. Aber auch diesem einfachen, verständlichen Vorgehen haben Sie sich verweigert. (…)
Hitler hatte drei Pläne: »Barbarossa«, »Ost« und Hungersnot. Er wollte uns töten und machte keinen Hehl daraus. Aber die hybride Kriegführung heute zielt darauf ab, unsere Welt dauerhaft zu vernichten. Deshalb begehen jene, die sie schüren, beispiellose Verbrechen. Sie bombardieren ein Atomkraftwerk und haben Drohnen für den Einsatz biologischer Waffen vorbereitet. (…) Aber warum dominieren hierzulande weiterhin Antisowjetismus und Russophobie? (…) Für uns ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Regierung und »Einiges Russland« die Operation unterstützen, die der Staatschef derzeit durchführt. In Worten sagt man ja, aber in der Tat, etwa im Informationsbereich, sehen wir das nicht oft genug. (…)
Übersetzung aus dem Russischen: Arnold Schölzel
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Leserbrief von M.Lücke aus berlin (27. Dezember 2022 um 09:03 Uhr)Die Krim schloss sich nicht an, sie wurde geraubt.
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Leserbrief von Joán Ujházy (27. Dezember 2022 um 20:20 Uhr)Aha!
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (27. Dezember 2022 um 08:41 Uhr)Der »scharfe« Ton bezieht sich auf die mangelhafte Ausrüstung der bzw. Schlendrian in den kapitalistischen Streitkräften Russlands – wahrhaft revolutionär. Lenin und Liebknecht wären bestimmt stolz auf solche staatstragenden »Kommunisten«. Seltsam, wo habe ich dieses Gejammere über schlechte Ausrüstung schon mal gehört … Ach ja, seit Jahren im Bundestag.
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